Jiddu Krishnamurti spricht über:

    » Der Mensch und die Welt «

Dank und credits  to Mary Lutyens and the Krishnamurti Foundation
1969 wählte Mary Lutyens einige seiner talks*)  für die Krishnamurti Foundation für das Buch 'Freedom from the Known' aus. 
*) Jiddu Krishnamurti sprach immer frei.


"Der Mensch hat zu allen Zeiten etwas gesucht, das über ihn und sein materielles Wohl hinaus geht - etwas, das wir Wahrheit oder Gott oder Realität nennen, einen zeitlosen Zustand - etwas, das nicht durch Umstände, durch Gedanken oder durch menschliche Verderbtheit beeinträchtigt werden kann. - Der Mensch hat ständig die Frage gestellt : Worum geht es eigentlich? Hat das Leben überhaupt einen Sinn? Er hat die heillose Unordnung des Lebens vor Augen, die Rohheiten, die Revolten, die Kriege, die religiösen, ideologischen und nationalen Spaltungen, die nie aufhören, und mit einem Gefühl tiefer Enttäuschung fragt er, was er tun soll, was denn das ist, was wir Leben nennen, und ob es etwas gibt, das darüber hinaus geht. Und da er dieses Unbeschreibliche, das tausend Namen trägt und das er immer gesucht hat, nicht finden konnte, hat er den Glauben entwickelt - den Glauben an einen Erlöser oder an ein Ideal - , und jeder Glaube erzeugt unabänderlich Gewaltsamkeit. 

In diesem ständigen Kampf, den wir Leben nennen, versuchen wir einen Kodex des Verhaltens aufzustellen, der der Gesellschaft entspricht, in der wir aufgewachsen sind, ganz gleich, ob es sich dabei um eine kommunistische oder sogenannte freie Gesellschaft handelt. Wir akzeptieren eine genormte Lebenshaltung als Bestandteil einer Tradition, der wir als Hindus, Moslems oder Christen oder was wir sonst zufällig sein mögen, angehören. Wir schauen nach jemandem aus, der uns sagt, was rechtes oder falsches Betragen, was rechtes oder falsches Denken ist, und indem wir uns nach dieser Norm ausrichten, wird unser Verhalten, unser Denken mechanisch, werden unsere Reaktionen automatisch. Wir können das sehr leicht an uns beobachten. Seit Jahrhunderten sind wir durch unsere Lehrer, durch unsere Autoritäten, durch unsere Bücher und unsere Heiligen gegängelt worden. Wir erwarten, daß sie uns alles offenbaren, was hinter den Hügeln, den Bergen und der Erde liegt. Und wir sind mit ihrer Darstellung zufrieden, das bedeutet, daß wir von Worten leben und unser Leben hohl und leer ist. Wir sind Menschen aus zweiter Hand. Wir haben von dem gezehrt, was man uns gesagt hat, und ließen uns entweder durch unsere Neigungen und Absichten leiten oder durch das, was uns durch die Umstände und die Umwelt aufgezwungen wurde. Wir sind das Resultat aller möglichen Einflüsse. In uns ist nichts Neues, nichts, das wir selbst entdeckt haben, nichts Ursprüngliches, Urtümliches, Leuchtendes. Während der ganzen theologischen Vergangenheit ist uns von religiösen Lehrern versichert worden, daß wir, wenn wir bestimmte Riten verrichten, bestimmte Gebete oder Mantras wiederholen, uns gewissen Normen anpassen, unsere Wünsche unterdrücken, unsere Gedanken kontrollieren, unsere Leidenschaften sublimieren, unsere Triebe eindämmen und uns sexueller Ausschweifungen enthalten, daß wir - wenn Geist und Körper ausreichend gefoltert sind - dann etwas jenseits dieses bedeutungslosen Lebens finden werden. Und das haben Millionen sogenannter religiöser Menschen Jahrhunderte hindurch getan, entweder in der Abgeschiedenheit, indem sie in die Wüste oder in die Berge oder in eine Höhle gingen oder mit der Bettelschale von Dorf zu Dorf wanderten oder sich in einem Kloster als Gruppe zusammenfanden und ihren Geist zwangen, sich einem festgelegten Vorbild anzupassen. Aber ein gequälter Mensch mit einem zerbrochenen Geist, ein Mensch, der diesem ganzen Tumult zu entrinnen trachtet, der der äußeren Welt entsagt hat und durch Disziplin und Anpassung abgestumpft wurde, solch ein Mensch, wie lange er auch suchen mag, wird nur finden, was seinem irregeleiteten Geist entspricht. 

Um nun zu entdecken, ob es tatsächlich etwas jenseits dieses unruhigen, schuldvollen, furchterfüllten, ehrgeizigen Daseins gibt oder nicht, scheint es mir, daß man einen ganz anderen Weg gehen muß. Nach der traditionellen Einstellung geht man von der Peripherie nach innen, um im Laufe der Zeit durch Übung und Verzicht allmählich zu jenem inneren Erblühen, jener inneren Schönheit und Liebe zu kommen - in Wirklichkeit aber tut man alles, um engherzig, unbedeutend und minderwertig zu werden. Man löst Schicht um Schicht ab, man läßt sich Zeit, man erwartet alles vom Morgen, vom nächsten Leben - und wenn man schließlich zum Zentrum gelangt, entdeckt man, daß dort nichts ist, weil unser Geist unfähig, stumpf und unempfindlich gemacht worden ist. Wenn man diesen Prozeß wahrgenommen hat, fragt man sich, ob es nicht einen ganz anderen Weg gibt, ob es nicht möglich ist, vom Zentrum her durchzubrechen. Die Welt akzeptiert den traditionellen Weg und folgt ihm. Die eigentliche Ursache der Unordnung in uns ist das Suchen nach einer Realität, die uns von einem anderen versprochen wurde. Wir folgen mechanisch dem, der uns ein wohltuendes spirituelles Leben zusichert. Es ist höchst seltsam, daß, obgleich wir uns der politischen Tyrannei und Diktatur widersetzen, wir innerlich die Autorität, die Tyrannei eines anderen hinnehmen, die unseren Geist und unser Leben verwirrt. 

Wenn wir nun jede sogenannte spirituelle Autorität mitsamt allen Zeremonien, Riten und Dogmen verwerfen, nicht intellektuell, sondern tatsächlich, bedeutet das, daß wir allein stehen und uns damit bereits im Konflikt mit der Gesellschaft befinden. Für die Gesellschaft hören wir auf, geachtete Menschen zu sein. Doch ein von der Gesellschaft geschätzter Mensch kann unmöglich dieser unendlichen, unermeßlichen Realität näherkommen. 

Sie haben nun damit begonnen, etwas absolut Falsches zu verneinen, den traditionellen Weg. Doch wenn diese Ablehnung eine Reaktion ist, werden Sie eine andere Schablone geschaffen haben, in der Sie wie in einer Falle festgehalten werden. Wenn Ihnen Ihr Verstand sagt, daß diese Ablehnung ein guter Gedanke ist, Sie aber nichts daraus machen, kommen Sie nicht weiter. Wenn Sie das Falsche jedoch verneinen, weil Sie den Stumpfsinn, die Unreife der gesellschaftlichen Konvention verstehen, wenn Sie sie aus tiefer Einsicht verwerfen, weil Sie frei sind und sich nicht fürchten, werden Sie eine große Unruhe in sich und um sich hervorrufen; aber Sie werden aus der Falle konventioneller Ehrbarkeit herauskommen. Dann werden Sie entdecken, daß Sie nicht länger suchen. Und das ist das erste, das zu lernen ist: nicht zu suchen. Solange Sie suchen, machen Sie nur einen Schaufensterbummel. 

Die Frage, ob es einen Gott gibt oder die Wahrheit oder die Realitat oder wie Sie es sonst benennen mögen, kann niemals durch Bücher, Priester, Philosophen oder Erlöser beantwortet werden. Niemand und nichts kann diese Frage beantworten als Sie selbst; und darum müssen Sie sich kennen. Wenn man sich selbst nicht kennt, ist man unreif. Sich selbst zu verstehen, ist der Anfang der Weisheit. 

Und was ist dieses Selbst, das individuelle Wesen? Ich glaube, es besteht ein Unterschied zwischen dem Menschen an sich und dem Individuum. Das Individuum ist örtlich gebunden, lebt in einem bestimmten Lande, gehört einer bestimmten Kultur, Gesellschaft und Religion an. Der Mensch als solcher ist jedoch keine lokal gebundene Einheit. Er ist überall. Die Handlung des Individuums, das nur in einem begrenzten Winkel des weiten Lebensgebietes wirkt, ist ohne jede Beziehung zum Ganzen. Darum müssen wir daran denken, daß wir von dem Ganzen und nicht von einem Teil sprechen, weil sich im Größeren das Geringere findet, aber im Geringeren nicht das Größere. Das Individuum ist das unbedeutende, eingeengte, elende, enttäuschte Wesen, zufrieden mit seinen kleinen Göttern und seiner engen Tradition, während ein wahrer Mensch am Wohlergehen, dem Elend und der Verwirrung der ganzen Menschheit Anteil hat. 

Wir Menschen sind geblieben, wie wir seit Millionen von Jahren waren - im höchsten Maße gierig, neidisch, aggressiv, eifersüchtig, ängstlich und verzweifelt, mit gelegentlichen Ausbrüchen der Freude und der Zuneigung. Wir sind eine seltsame Mischung von Haß, Furcht und Freundlichkeit. Wir sind gewalttätig und auch friedfertig. Der äußere Fortschritt hat uns vom Ochsenkarren bis zum Düsenflugzeug geführt; aber innerlich hat sich das Individuum überhaupt nicht geändert, und dieses Individuum hat die Struktur der Gesellschaft in der ganzen Welt geschaffen. Das äußere soziale Gefüge ist das Ergebnis der inneren psychologischen Struktur unserer menschlichen Beziehungen, denn das Individuum ist das Resultat der gesamten Erfahrungen, des gesamten Wissens und Verhaltens des Menschen. Jeder von uns ist das Lagerhaus der ganzen Vergangenheit. Das Individuum ist das Wesen, das die ganze Menschheit in sich trägt. Die gesamte Geschichte des Menschen ist in uns niedergeschrieben. Beobachten Sie, was sich wirklich in Ihnen und in der Außenwelt abspielt - in dieser Wettbewerbskultur, in der Sie leben, mit ihrem Verlangen nach Macht, Position, Einfluß, Namen, Erfolg und allem Drum und Dran. Betrachten Sie die Leistungen, auf die Sie so stolz sind, den ganzen Bereich, den Sie Leben nennen, in dem alle Beziehungen voller Konflikte sind, die Haß, Widerstreit, Brutalität und endlose Kriege erzeugen. Dieser Bereich, dieses Leben ist alles, was wir kennen, und da wir unfähig sind, den gewaltigen Daseinskampf zu begreifen, fürchten wir uns natürlich davor und spüren die verborgensten Möglichkeiten auf, um zu entrinnen. Wir fürchten uns auch vor dem Unbekannten, fürchten uns vor dem Tode, fürchten uns vor dem, was hinter dem Morgen liegt. Wir fürchten uns vor dem Bekannten und fürchten uns vor dem Unbekannten. Das ist unser tägliches Leben, in dem es keine Hoffnung gibt. Darum ist jede Philosophie, sind theologische Begriffe jeder Art nur eine Flucht vor der eigentlichen Wirklichkeit, vor dem, was ist. 

Alle äußeren Veränderungen, die durch Kriege, Revolutionen, Reformationen, Gesetze und Ideologien veranlaßt wurden, haben es nicht vermocht, die Natur des Menschen und damit die Gesellschaft grundlegend zu verwandeln. Als menschliche Wesen, die in dieser monströs häßlichen Welt leben, müssen wir uns fragen, ob diese Gesellschaft, die auf Wettbewerb, Brutalität und Furcht gegründet ist, zu einem Ende kommen kann - nicht in der begrifflichen Vorstellung, nicht als eine Hoffnung, sondern in Wirklichkeit, so daß der Geist frisch, neu und unschuldig ist und eine gänzlich andere Welt hervorbringen kann. 

Ich glaube, das kann nur geschehen, wenn jeder von uns die wesentlichste Tatsache anerkennt, daß wir als Individuen, als menschliche Wesen, in welchem Teil der Welt wir auch zufällig leben oder welcher Kultur wir auch zufällig angehören mögen, voll und ganz für den Gesamtzustand der Welt verantwortlich sind. Jeder von uns ist für jeden Krieg verantwortlich, denn unser Leben ist voller Aggressivität; wir haben unseren Nationalismus, wir sind voller Selbstsucht, haben unsere Götter, unsere Vorurteile, unsere Ideale - und das alles trennt uns voneinander. Und nur, wenn wir klar erkennen - nicht intellektuell, sondern so wirklich, wie wir unseren Hunger oder unsere Schmerzen empfinden - daß Sie und ich für das bestehende Chaos verantwortlich sind, für das Elend in der ganzen Welt - denn wir haben durch unser tägliches Leben dazu beigetragen und sind Teil dieser monströsen Gesellschaft mit ihren Kriegen, Einteilungen, ihrer Häßlichkeit, Brutalität und Gier -, nur dann werden wir wirklich handeln. Aber was kann ein Mensch tun, was können Sie und ich tun, um eine völlig andere Welt aufzubauen? Wir stellen uns damit eine sehr ernst zu nehmende Frage. Kann überhaupt etwas getan werden ? Was können wir tun? Wird es uns jemand sagen? 

Man hat es uns gesagt. Die sogenannten spirituellen Führer, von denen man annimmt, daß sie diese Dinge besser verstehen als wir, haben es uns gesagt, indem sie versuchten, uns in eine neue Schablone hineinzubiegen und hineinzupressen, und das hat uns nicht sehr weit gebracht. Weltkluge und gelehrte Männer haben es uns gesagt, und das hat uns auch nicht weitergeführt. Uns wurde gesagt, daß alle Wege zur Wahrheit führen: der eine geht auf seinem Pfad als Hindu, ein anderer folgt seinem Pfad als Christ und wieder ein anderer als Moslem, und sie alle begegnen sich an derselben Tür, und das ist, wenn Sie es richtig betrachten, offensichtlich völlig unsinnig. Zur Wahrheit führt kein Pfad, und darin liegt ihre Schönheit; die Wahrheit ist etwas Lebendiges. Eine tote Sache hat einen Pfad, der zu ihr führt, weil alles Tote statisch ist. Wenn Sie aber erkennen, daß die Wahrheit etwas Lebendiges ist, das in Bewegung ist, das keine bleibende Stätte hat, das in keinem Tempel, keiner Moschee oder Kirche zu finden ist, wohin Sie keine Religion, kein Lehrer, kein Philosoph führen kann - dann werden Sie auch erkennen, daß dieses Lebendige das ist, was Sie in Wirklichkeit selbst sind Ihr Ärger, Ihre Rohheit, Ihre Heftigkeit, Ihre Verzweiflung, die Trübsal und das Leid, darin Sie leben. 

Im Verstehen all dieser Dinge liegt die Wahrheit; doch Sie können nur verstehen, wenn Sie wissen, wie Sie auf diese Dinge, die zu Ihrem Leben gehören, zu schauen haben. Und Sie können nicht von einer Ideologie aus schauen, nicht durch einen Schleier von Worten, nicht mit Hoffnungen und Ängsten.

Sie sehen also ein, daß Sie von niemandem abhängig sein dürfen. Es gibt keinen Führer, keinen Lehrer, keine Autorität. Es gibt nur Sie - Ihre Beziehung zu anderen und zur Welt -, nichts sonst ist da. Wenn Sie das erkennen, mögen Sie in tiefe Verzweiflung geraten, aus der Zynismus und Bitterkeit erwachsen. Doch wenn Sie der Tatsache ins Auge sehen, daß Sie und niemand sonst für die Welt und für sich selbst verantwortlich ist, für alles, was Sie denken, was Sie fühlen, wie Sie handeln, dann verschwindet alle Selbstbemitleidung. Normalerweise gedeihen wir dadurch, daß wir andere tadeln, was eine Form der Selbstbemitleidung ist. 

Können Sie und ich nun ohne äußeren Einfluß, ohne jeden Zwang, ohne Furcht vor Bestrafung - können wir im Kern unseres Wesens eine totale Revolution, eine psychologische Umwandlung hervorbringen? Dann wären wir nicht länger brutal, heftig, wetteifernd, unruhig, furchtsam, gierig, neidisch und was sonst noch zu den Ausdrucksformen unserer Natur gehört, womit wir diese verrottete Gesellschaft aufgebaut haben, in der sich unser tägliches Leben abspielt. 

Es ist wichtig, von Anfang an zu verstehen, daß ich keine Philosophie, kein theologisches Gebäude von Ideen oder Begriffen formuliere. Mir scheinen alle Ideologien äußerst töricht zu sein. Wichtig ist nicht eine Lebensphilosophie, sondern daß wir beobachten, was tatsächlich in unserem täglichen Leben geschieht - innen und außen. Wenn Sie genau beobachten, was vor sich geht und es prüfen, werden Sie sehen, daß alles auf einer verstandesmäßigen Vorstellung beruht. Der Verstand umfaßt aber nicht das Dasein in seinem ganzen Umfang; er ist ein Stück davon, und Bruchstücke, wie klug sie  auch zusammengesetzt sein mögen, wie ehrwürdig und traditionell sie auch sein mögen, sind nur ein geringer Teil des Lebens, während wir uns mit seiner Ganzheit befassen müssen. 

Wenn wir sehen, was in der Welt vor sich geht, beginnen wir zu verstehen, daß es keinen äußeren und inneren Prozeß, sondern nur einen einheitlichen Prozeß gibt, eine alles umfassende Bewegung, wobei die innere Bewegung sich im Äußeren darstellt und die äußere wiederum auf das Innere zurückwirkt. Fähig zu sein, darauf hinzuschauen - das allein scheint mir notwendig zu sein; denn wenn wir wissen, wie zu schauen ist, dann wird alles ganz klar, und zum Hinsehen bedarf es keiner Philosophie, keines Lehrers, niemand braucht Ihnen zu sagen, wie Sie schauen sollen. Sie schauen eben. Wenn Sie nun das ganze Bild vor Augen haben, es wirklich sehen - nicht nur sagen, daß Sie es sehen -, können Sie sich dann mühelos und spontan verwandeln? Das ist das eigentliche Problem. Ist es möglich, eine vollkommene Revolution in der Seele hervorzubringen ? 

Ich möchte wissen, wie Sie auf eine solche Frage reagieren. Sie mögen sagen, »Ich wünsche mich nicht zu verändern«, und die meisten Menschen wollen es auch nicht. Besonders diejenigen sind einer Veränderung abgeneigt, die in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht einigermaßen gesichert leben oder die an dogmatischen Vorstellungen festhalten oder bereit sind, sich und die Dinge so zu nehmen, wie sie sind, vielleicht in einer etwas abgewandelten Form. Mit diesen Leuten befassen wir uns nicht. Oder Sie mögen sich etwas subtiler ausdrücken : »Es tut mir leid, es ist zu schwierig, es ist nichts für mich.«  In diesem Falle haben Sie sich bereits blockiert und haben aufgehört zu forschen, und es wird zwecklos sein, weiterzugehen. Oder Sie mögen sonst noch sagen, »Ich sehe die Notwendigkeit einer fundamentalen inneren Verwandlung ein, wie aber soll ich sie zustande bringen? Zeigen Sie mir bitte den Weg, verhelfen Sie mir dazu.« Wenn Sie so reden, dann hat das, womit Sie sich befassen, nichts mit wirklicher Verwandlung zu tun. Dann sind Sie nicht an einer grundlegenden Revolution interessiert; Sie suchen nur nach einer Methode, einem System, das Ihnen zur Verwandlung helfen soll. 

Wenn ich töricht genug wäre, Ihnen ein System zu geben, und wenn Sie unklug genug wären, sich danach zu richten, würden Sie nur kopieren, nachahmen, sich anpassen, billigen. Wenn Sie das aber tun, haben Sie die Autorität eines anderen in sich aufgerichtet, und daraus entsteht der Konflikt zwischen Ihnen und der Autorität. Sie glauben, dieses oder jenes tun zu müssen, weil man es Ihnen gesagt hat, und doch sind Sie unfähig, es zu tun. Sie haben Ihre besonderen persönlichen Neigungen, Absichten und Nöte, die zu dem System, dem Sie glauben folgen zu müssen, im Gegensatz stehen, und daraus entwickelt sich folglich ein Widerspruch. So werden Sie ein zwiespältiges Leben zwischen der Ideologie des Systems und der Wirklichkeit Ihres täglichen Lebens führen. In dem Versuch, sich mit der Ideologie in Einklang zu bringen, unterdrücken Sie sich, während die eigentliche Wahrheit nicht in der Ideologie steckt, sondern in dem, was Sie tatsächlich sind. Wenn Sie versuchen sich zu erforschen und sich dabei nach einem anderen ausrichten, werden Sie immer ein Mensch bleiben, der aus zweiter Hand lebt. 

Ein Mensch, der sagt, »Ich wünsche mich zu verwandeln; sage mir, wie ich es tun soll.«, scheint sehr aufrichtig zu sein, es sehr ernst zu nehmen, aber er ist es nicht. Er verlangt nach einer Autorität, von der er hofft, daß sie ihm zur inneren Ordnung verhelfe. Aber kann Autorität jemals innere Ordnung erzeugen? Ordnung, die von außen auferlegt wird, muß immer Unordnung schaffen. Sie mögen diese Wahrheit mit dem Verstand begreifen, aber können Sie sie wirklich anwenden, so daß für Ihren Geist keine Autorität mehr in Betracht kommt, nicht die Autorität eines Buches, eines Lehrers, der Ehefrau oder des Ehemannes, der Eltern, eines Freundes oder der Gesellschaft? Da wir immer schablonenhaft nach einer Formel gelebt haben, wird die Formel zur Ideologie und zur Autorität. Aber in dem Augenblick, da Sie wirklich erkennen, daß die Frage »Wie kann ich mich verwandeln?« eine neue Autorität schafft, sind Sie mit der Autorität für immer fertig. 

Lassen Sie es uns noch einmal klar und deutlich sagen: Ich sehe ein, daß ich mich vollkommen, bis in die Wurzel meines Seins verwandeln muß. Ich kann nicht länger von irgendeiner Tradition abhängen, denn die Tradition hat diese ungeheure Trägheit, Unterwerfung und Abhängigkeit geschaffen. Ich kann auf keinen Fall von einem anderen Hilfe erwarten, um mich zu verwandeln - von keinem Lehrer, keinem Gott, keinem Glaubenssatz oder System, keinem äußeren Zwang oder Einfluß. Was geschieht dann ? Vor allen Dingen: Können Sie jede Autorität ablehnen? Wenn Sie es können, bedeutet es, daß Sie sich nicht länger fürchten. Was ereignet sich dann? Wenn Sie etwas Falsches, das Sie seit Generationen mit sich herumgesch1eppt haben, verwerfen, wenn Sie irgendeine Last abwerfen, was geschieht dann? Dann haben Sie mehr Energie, nicht wahr? Dann haben Sie eine größere Leistungsfähigkeit, mehr Schwung, eine größere Intensität und Vitalität. Wenn Sie das nicht empfinden, dann haben Sie sich nicht von der Last befreit, dann haben Sie das tote Gewicht der Autorität nicht abgeworfen. Aber wenn Sie sie abgeschüttelt haben und damit die Energie besitzen, in der es keinerlei Furcht mehr gibt - keine Furcht davor, einen Fehler zu machen, richtig oder falsch zu handeln - ist nicht dann diese Energie selbst die Umwandlung? Wir brauchen ein gewaltiges Ausmaß an Energie, und wir verschwenden sie durch die Furcht. Doch wenn die Energie vorhanden ist, die dadurch entsteht, daß jede Furcht abgeworfen wurde, bringt diese Energie selbst die radikale innere Revolution hervor. Wir haben dazu nichts zu tun. Sie sind sich also selbst überlassen. In diesem Zustand befindet sich tatsächlich der Mensch, dem es ernsthaft um diese Dinge zu tun ist. Und da Sie nicht länger von irgend jemandem oder irgend etwas Hilfe erwarten, sind Sie bereits frei, um zu entdecken. Und wo Freiheit ist, ist Energie, wo Freiheit ist, kann nichts mehr falsch getan werden. Freiheit ist etwas ganz anderes als Revolte. In der Freiheit gibt es kein rechtes oder unrechtes Tun mehr. Sie sind frei, und von diesem Zentrum aus handeln Sie; daher gibt es keine Furcht mehr, und ein Mensch, der keine Furcht hat, ist großer Liebe fähig. Und der wahrhaft Liebende kann tun, was er will. 

Als nächstes werden wir darum uns selbst kennenlernen, nicht durch den Sprecher oder einen Analytiker oder einen Philosophen, denn wenn wir von einem anderen etwas über uns lernen, lernen wir im Grunde etwas über ihn, nicht über uns. Wir sind hier dabei zu lernen, was wir tatsächlich sind. 

Nachdem wir klar erkannt haben, daß wir, um eine totale Revolution in unserem Seelengefüge hervorzubringen, von keiner äußeren Autorität abhängig sein dürfen, stehen wir vor der weit größeren Schwierigkeit, unsere eigene innere Autorität zu verwerfen, die Autorität unserer persönlichen belanglosen Erfahrungen und angesammelten Ansichten, Kenntnisse, Ideen und Ideale. Sie hatten gestern ein Erlebnis, das Sie etwas gelehrt hat, und was Sie da gelernt haben, wird zu einer neuen Autorität. Diese Autorität von gestern wirkt ebenso zerstörerisch wie eine tausendjährige Autorität. Um uns selbst zu verstehen, bedarf es weder der gestrigen noch der tausendjährigen Autorität, weil wir etwas Lebendiges sind, in ständiger Bewegung, fließend, niemals ruhend. Wenn wir mit der toten Autorität von gestern auf uns schauen, wird es uns nicht gelingen, diese lebendige Bewegung und die Schönheit, die darin liegt, zu verstehen. 

Frei zu sein von aller Autorität, von der eigenen und der eines anderen, bedeutet, sich von allem, was gestern war, loszusagen, so daß der Geist immer frisch, immer jung, unschuldig, voller Kraft und Leidenschaft ist. Nur in diesem Zustand kann man lernen und beobachten, und das bedarf einer umfassenden Bewußtheit, eines unmittelbaren Gewahrseins des inneren Lebensprozesses, ohne ihn zu korrigieren, ohne vorzuschreiben, was er sein sollte oder nicht sein sollte. Denn in dem Augenblick, da Sie korrigieren, haben Sie eine andere Autorität, einen Zensor eingesetzt. 

Wir werden uns nun zusammen erforschen - nicht indem einer erläutert, während Sie zuhören und ihm zustimmen oder ihn ablehnen. Wir werden vielmehr gemeinsam eine Reise machen, eine Entdeckungsreise in die verborgensten Winkel unseres Geistes. Für eine solche Reise müssen wir unbeschwert sein. Wir dürfen nicht mit Meinungen, Vorurteilen und gedanklichen Festlegungen belastet sein, diesem alten Hausrat, den wir während der letzten zweitausend Jahre und länger gesammelt haben. Vergessen Sie alles, was Sie über sich wissen. Vergessen Sie alles, was Sie je von sich gedacht haben. Wir werden beginnen, als ob wir nichts wissen. 

Es hat in der letzten Nacht heftig geregnet, und nun beginnt der Himmel sich aufzuklären. Ein neuer frischer Tag ist erwacht. Lassen Sie uns diesem neuen Tag begegnen, als gäbe es nur diesen einen Tag.

Wir wollen gemeinsam zu unserer Reise aufbrechen und alle gestrigen Erinnerungen hinter uns lassen - fangen wir an, uns erstmalig zu verstehen! " 

'Dust' Aquarell, © Volker Doormann

Aquarell © 2000  by volker doormann
 

volker doormann    -  2003.10.04