Sokrates Sokrates
wurde im vierten Jahr des 77.
Olympiad am 6. Tag des Monats
Thargelion im
Demos Alopeke geboren einem Vorort von Athen an den Hängen
des Lykabettos. (Quelle: Maurice Wemyss nach Stanley's History
of Philosophy)
Der
Logiker
"Nur weil ich etwas nicht verstehe, ist
das für mich nicht einfach grundlos.
Vielleicht gibt es ein Reich der Weisheit,
von dem der Logiker ausgeschlossen ist."
Der
Prozess
Nun tritt Sokrates auf. Er blickt gelassen um sich.
Am Leibe trägt er wie
gewöhnlich ein Tribon, und beim Gehen stützt er sich auf einen Stock aus
Eichenholz.
»Da ist er ja, der unbeugsame Alte«, ruft: Kallios aus. »Wenn
man ihn so sieht, könnte man gerade meinen, er gehe nicht zu einem Prozess wegen
Gottesfrevel, sondern zu einem Gastmahl: er lächelt, bleibt stehen, um mit den
Freunden zu sprechen, und grüßt alle, die er sieht!«
»Er macht doch
wieder nur Schwierigkeiten«, protestiert Euthymachos, der jetzt mißgünstiger ist
denn je. »Außerdem merkt er überhaupt nicht, daß das Volk ihn als schuldig
betrachtet und ihn daher angsterfüllt und um Gnade flehend sehen
will.«
Sokrates hat die Tribüne bestiegen: Er befindet sich links vom
Großarchonten und wartet geduldig darauf, daß der Gerichtsschreiber den Prozeß
für eröffnet erklärt.
»Heliasten«, verkündet der Gerichtsschreiber, »die
Götter haben eure Namen aus der Urne auserwählt, damit ihr Sokrates, den Sohn
des Sophroniskos, von der Anklage des Gottesfrevels, die Meletos, Sohn des
Meletos, gegen ihn erhoben hat, freisprechen oder aber ihn schuldigsprechen
könnt.«
»Das Wort hat Meletos, Sohn des Meletos«, verkündet der
Gerichtsschreiber und deutet auf einen wohlgekleideten jungen Mann mit
Lockenhaar.
Meletos besteigt das Podest, das für die Anklage bestimmt
ist. Er hat eine hochmütige und leidende Miene, wie es einem tragischen Dichter
angemessen ist. Er will den Anschein erwecken, daß es ihm leid tut, gegen einen
Greis wie Sokrates wüten zu müssen.
»Richter von Athen!« beginnt der
junge Mann und läßt seinen Blick langsam über alle die Richter wandern, die ihm
gegenüber sitzen.
»Ich, Meletos, Sohn des Meletos, klage Sokrates an, die
Jugend zu verderben, die Götter nicht anzuerkennen, die die Stadt anerkennt, an
die Dämonen zu glauben und religiöse Praktiken zu üben, die uns fremd
sind.«
»Ich, Meletos, Sohn des Meletos, klage Sokrates an, sich in Dinge
einzumischen, die ihn nichts angehen; das zu untersuchen, was unter der Erde und
über dem Himmel ist, mit allen über alles zu reden, wobei er jedes mal versucht,
die schlechteste Meinung als die beste erscheinen zu lassen. Wegen dieser
Vergehen fordere ich die Athener auf, ihn zum Tode zu
verurteilen!«
Bei diesem letzten Satz wenden sich alle Sokrates zu,
um seine Reaktion zu beobachten. Der Philosoph zeigt Verwunderung: er gleicht
mehr einem Zuschauer als einem Angeklagten. ..." (Luziano De Crescenzo,
Sokrates)
Kriton
Sokrates: Wie bist du schon um diese Zeit gekommen, Kriton? Oder ist es nicht
noch früh?
Kriton: Noch gar sehr.
Sokrates: Welche Zeit wohl?
Kriton:
Die erste Morgendämmerung.
Sokrates: Da wundere ich mich, daß der Schließer
des Gefängnisses dir aufmachen gewollt hat.
Kriton: Er ist schon gut bekannt
mit mir, Sokrates, weil ich oft hierher komme. Auch hat er wohl eher etwas von
mir erhalten.
Sokrates: Bist du eben erst gekommen oder schon lange
da?
Kriton: Schon ziemlich lange.
Sokrates: Warum also hast du mich nicht
gleich geweckt, sondern dich so still hingesetzt?
Kriton: Nein, beim Zeus,
Sokrates, wollte ich doch selbst lieber nicht so lange gewacht haben in solcher
Betrübnis. Aber sogar dir habe ich schon lange verwundert zugesehen, wie sanft
du schliefest: und recht wohlbedächtig habe ich dich nicht geweckt, damit dir
die Zeit noch recht sanft hingehe. Denn oft schon freilich auch sonst im ganzen
Leben habe ich dich glücklich gepriesen deiner Gemütsart wegen, bei weitem aber
am meisten bei dem jetzigen Unglück, wie leicht und gelassen du es
erträgst.
Sokrates: Es wäre ja auch frevelhaft, o Kriton, mich in solchem
Alter unwillig darüber zu gebärden, wenn ich endlich sterben muß.
Kriton:
Werden doch auch andere, Sokrates, ebenso Bejahrte von solchem Unglück
bestrickt; aber ihr Alter schützt sie nicht davor, sich nicht unwillig zu
gebärden gegen das eintretende Geschick.
Sokrates: Wohl wahr! Aber warum doch
bist du so früh gekommen?
Kriton: Um dir eine traurige Botschaft zu bringen,
Sokrates: nicht dir, wie ich wohl sehe, aber mir und allen deinen Freunden
traurig und schwer, und die ich, wie mich dünkt, ganz besonders am schwersten
ertragen werde.
Sokrates: Was doch für eine? Ist etwa das Schiff aus Delos
zurückgekommen, nach dessen Ankunft ich sterben soll?
Kriton: Noch ist es
zwar nicht hier, aber ich glaube doch, es wird heute kommen, nach dem, was
einige von Sunion Gekommene berichten, die es dort verlassen haben. Aus dieser
Nachricht nun ergibt sich, daß es heute kommt und daß du also morgen dein Leben
wirst beschließen müssen.
Sokrates: Also, o Kriton, Glück auf! Wenn es den
Göttern so genehm ist, sei es so! Jedoch glaube ich nicht, daß es heute
kommt.
Kriton: Woher vermutest du das?
Sokrates: Das will ich dir sagen.
Ich soll doch an dem folgenden Tage sterben, nachdem das Schiff gekommen
ist.
Kriton: So sagen wenigstens die, die darüber zu gebieten
haben.
Sokrates: Daher glaube ich nun nicht, daß es an dem jetzt anbrechenden
Tage kommen wird, sondern erst an dem nächsten. Ich schließe das aber aus einem
Traume, den ich vor einer kleinen Weile in dieser Nacht gesehen habe, und
beinahe mag es sich recht gelegen gefügt haben, daß du mich nicht aufgeweckt
hast.
Kriton: Und was träumte dir?
Sokrates: Es kam mir vor, als ob eine
schöne, wohlgestaltete Frau mit weißen Kleidern angetan auf mich zukam, mich
anrief und mir sagte: "O Sokrates, möchtest du am dritten Tag in die schollige
Phythia gelangen!"
Kriton: Welch ein sonderbarer Traum, o Sokrates!
Sokrates:
Deutlich gewiß, wie mich dünkt, o Kriton!
Kriton: Gar sehr, wie es scheint.
Aber du wunderlicher Sokrates, auch jetzt noch folge mir und rette dich. Denn
für mich ist es nicht ein Unglück, etwa wenn du stirbst: sondern außerdem, daß
ich eines solchen Freundes beraubt weide, - wie ich nie wieder einen finden
kann, werden auch viele glauben, die mich und dich nicht genau kennen, daß, ob
ich schon imstande gewesen wäre, dich zu retten, wenn ich einiges Geld aufwenden
gewollt, ich es doch verabsäumt hätte. Und was für einen schlechteren Ruf könnte
es wohl geben, als dafür angesehen sein, daß man das Geld höher achte als die
Freunde? Denn das werden die Leute nicht glauben, daß du selbst nicht weggehn
gewollt habest, wiewohl wir alles dazu getan.
Sokrates: Aber du guter Kriton,
was soll uns doch die Meinung der Leute so sehr kümmern? Denn die Besseren, auf
welche es eher lohnt, Bedacht zu nehmen, werden schon glauben, es sei so
gegangen, wie es gegangen ist.
Kriton: Aber du siehst doch nun, Sokrates, daß
es nötig ist, auch um der Leute Meinung sich zu kümmern. Eben das Gegenwärtige
zeigt ja genug, daß die Leute wohl vermögen, nicht das kleinste Übel nur
zuzufügen, sondern wohl das größte, wenn jemand bei ihnen verleumdet
ist.
Sokrates: Möchten sie nur, o Kriton, das größte Übel zuzufügen vermögen,
damit sie auch das größte Gut vermöchten! Das wäre ja vortrefflich! Nun aber
vermögen sie keines von beiden. Denn weder vernünftig noch unvernünftig können
sie machen; sondern sie machen nur, was sich eben trifft.
Kriton: Das mag
immer so sein. Dies aber, Sokrates, sage mir, ob du auch nicht etwa um mich
besorgt bist und um die anderen Freunde, daß nicht, wenn du von hier weggingest,
die Angeber uns Händel anrichten, weil wir dir heimlich fortgeholfen hätten, und
wir dann entweder unser ganzes Vermögen daran geben müßten oder doch vieles
Geld, und vielleicht noch sonst etwas dazu erleiden. Denn wenn du dergleichen
etwas fürchtest, das laß gut sein! Uns gebührt es ja wohl, über deiner Rettung
diese Gefahr auf uns zu nehmen, und wenn es sein müßte, eine noch größere. Also
gehorche mir und tue ja nicht anders!
Sokrates: Auch darum bin ich besorgt:
auch noch um vieles andere.
Kriton: Keineswegs aber befürchte dies! Denn
zuerst ist es nicht einmal viel Geld, wofür einige dich retten und von hier
wegführen wollen. Und dann, - siehst du nicht diese Angeber, wie wohlfeil sie
sind, und wie gar nicht viel Geld für sie nötig sein würde?
Für dich also,
glaube ich, würde auch mein Geldvorrat hinreichend sein. Wenn du aber etwa aus
Vorsorge für mich nicht leiden wolltest, daß ich von dem meinigen aufwendete, so
sind hier die Fremden bereit, es auszulegen. Ja, einer hat ausdrücklich hierzu
eine hinreichende Summe zur Stelle gebracht, Simmias von Theben. Auch Kebes ist
bereit und gar viele andere. So daß, wie gesagt, weder aus dieser Besorgnis du
es aufgeben darfst, dich zu retten, noch auch, was du vor Gericht sagtest, dir
hinderlich sein muß, daß du nämlich nach deiner Auswanderung von hier nicht
wissen würdest, was du anfangen solltest mit dir selbst. Denn an gar vielen
Orten auch anderwärts, wohin du nur kämest, würde man dich gern sehen; wolltest
du aber nach Thessalien gehen, so habe ich dort Gastfreunde, die dich sehr wert
achten und dir solche Sicherheit genug gewähren würden, daß dir niemand etwas
anhaben dürfte in Thessalien. Ferner, Sokrates, dünkt mich auch nicht einmal
recht zu sein, daß du darauf beharrest, dich selbst preiszugeben, da du dich
retten kannst, und selbst betreibst, daß es so mit dir werde, wie nur deine
Feinde es betreiben könnten und betrieben haben, welche dich verderben wollen.
Überdies dünkst du mich deinen eigenen Söhnen untreu zu sein, die du ja
auferziehen und ausbilden könntest: nun aber verläßt du sie und gehst davon, so
daß es ihnen, was dich anlangt, ergehen wird, wie es sich trifft. Es wird sie
aber wahrscheinlich so treffen, wie es Waisen zu ergehen pflegt im Waisenstande.
Denn entweder solltest du keine Kinder erzeugt haben, oder auch treulich
aushaken bei ihrer Erziehung und Ausbildung. Du aber scheinst nur das Bequemste
zu erwählen, und solltest doch nur das wählen, was ein tüchtiger und tapferer
Mann wählen würde, da du ja behauptest, dein ganzes Leben hindurch dich der
Tugend befleißigt zu haben. Wie denn auch ich für dich und für uns, deine
Freunde, mich schäme, daß es fast das Ansehn hat, als ob diese ganze Geschichte
mit dir nur durch eine Unmännlichkeit von unserer Seite so geschehen sei, sowohl
die Einlassung der Klage, daß du dich vor Gericht gestellt hast, da es dir
freistand, dich nicht zu stellen, als auch der ganze Rechtshandel selbst, wie er
ist geführt worden: und nun gar dieses Ende, recht das Lächerliche von der
Geschichte, wild uns nur aus Feigheit und Unmännlichkeit entgangen zu sein
scheinen, daß wir dich nicht gerettet haben, noch du dich selbst, da es gar wohl
möglich gewesen wäre und auch ausführbar, wenn wir nur irgend etwas nutz waren.
Dies also, o Sokrates, sieh wohl zu, daß es nicht außer zum Unglück auch zur
Schande gereiche, dir wie uns! Also berate dich! Oder es ist vielmehr nicht
einmal mehr Zeit, sich zu beraten, sondern sich beraten zu haben. Und es gibt
nur einen Rat. Denn in der nächsten Nacht muß dies alles geschehen sein, oder
wenn wir zaudern, ist es unausführbar und nicht mehr möglich. Also auf alle
Weise, Sokrates, gehorche mir und tue ja nicht anders!
Sokrates: Deine Sorge
um mich, du lieber Kriton, ist viel wert, wenn sie nur irgend mit dem Richtigen
bestehen könnte; wo aber nicht, so ist sie je dringender, um desto peinlicher.
Wir müssen also erwägen, ob dies wirklich tunlich ist oder nicht. Denn nicht
jetzt nur, sondern schon immer habe ich ja das an mir, daß ich nichts anderem
von mir gehorche als dem Satze, der sich mir bei der Untersuchung als der beste
zeigt. Das aber, was ich schon ehedem in meinen Reden festgesetzt habe, kann ich
ja nun nicht verwerfen, weil mir dieses Schicksal geworden ist; sondern jene
Reden erscheinen mir noch ganz als dieselben, und ich schätze und ehre sie noch
ebenso wie vorher. Wenn wir also nicht bessere als sie jetzt vorzutragen haben,
so wisse nur, daß ich dir nicht nachgeben werde, und wenn auch die Macht der
Menge noch mehr, als schon geschieht, um uns wie Kinder einzuschüchtern,
Gefangenschaft und Tod auf uns losließe und Verlust des Vermögens. Wie können
wir also dies recht zu unserer Befriedigung untersuchen? Wenn wir zuerst den
Satz wegen der Meinungen aufnehmen, von dem du sprichst, ob wohl für jeden Fall
gut gesagt war oder nicht, daß man auf einige Meinungen zwar achten müsse, auf
andere aber nicht, oder ob es zwar, ehe ich sterben sollte, gut gesagt war,
nun
aber offenbar geworden ist, daß es nur obenhin des Redens wegen gesagt, in der
Tat aber nichts war als Scherz und Geschwätz? Ich meinesteils habe Lust, Kriton,
dies mit dir gemeinschaftlich zu untersuchen, ob diese Rede mir jetzt etwa
wunderlicher erscheinen wird, nun es so mit mir steht, oder noch ebenso, und
demgemäß wollen wir sie entweder gehen lassen oder ihr gehorchen. So aber,
glaube ich, wurde sonst immer von denen behauptet, die etwas zu sagen meinten,
wie ich jetzt eben sagte, daß von den Meinungen, welche die Menschen hegen, man
einige zwar sehr hoch achten müsse, andere aber nicht. Sprich nun, Kriton, bei
den Göttern, dünkt dich dies nicht gut gesagt zu sein? Denn du bist doch
menschlichem Ansehen nach fern davon, morgen sterben zu müssen, und das
bevorstehende Schicksal könnte dich nicht berücken. Erwäge also: scheint dir das
nicht gut gesagt, daß man nicht alle Meinungen der Menschen ehren muß, sondern
einige wohl, andere aber nicht? Und auch nicht aller Menschen, sondern einiger
ihre wohl, anderer aber nicht? Was meinst du? Ist das nicht gut
gesagt?
Kriton: Gut.
Sokrates: Nämlich doch die guten Meinungen soll man
ehren, die schlechten nicht?
Kriton: Ja.
Sokrates: Und die guten, sind das
nicht die der Vernünftigen, die schlechten aber die der
Unvernünftigen?
Kriton: Wie anders?
Sokrates: Wohlan, wie wurde wiederum
hierüber gesprochen? Ein Mann, der Leibesübungen treibt und sich dies zum
eigentlichen Geschäfte macht, wird der wohl auf jedermanns Lob und Tadel und
Meinung achten, oder nur auf jenes allein, auf des Arztes oder des
Turnmeisters? Kriton: Auf jenes allein.
Sokrates: Also fürchten muß er
auch nur den Tadel, und Freude haben nur an dem Lobe jenes einen, und nicht der
Menge?
Kriton: Offenbar.
Sokrates: Auf die Art also muß er zu Werke gehn
und sich üben und essen und trinken, wie dieser eine es gut findet, der Meister
und Sachverständige, viel mehr als wie alle anderen insgesamt.
Kriton: So ist
es.
Sokrates: Wohl! Ist er aber diesem einen unfolgsam und achtet seine
Meinung und sein Lob gering, höher aber das der andern unkundigen Leute, wird
ihm dann nichts Übles begegnen?
Kriton: Wie sollte es ihm nicht?
Sokrates:
Was ist nun wohl dieses Übel? Worauf zielt es, und was trifft es von dem
Unfolgsamen?
Kriton: Seinen Leib offenbar: denn diesen zerrüttet
er.
Sokrates: Wohlgesprochen! Ist es nun nicht ebenso mit allem andern,
Kriton, damit wir nicht alles durchgehen: also auch mit dem Gerechten und
Ungerechten, dem Schändlichen und Schönen, dem Guten und Bösen, worüber wir
eben jetzt beratschlagen, ob wir hierin der Meinung der Menge folgen und sie
fürchten müssen, oder nur der des einen, wenn es einen Sachverständigen
hierin gibt, den man mehr scheuen und fürchten muß als alle anderen, welchem
dann nicht folgend wir uns das verderben werden und verstümmeln, was eben durch
das Recht besser wird, durch das Unrecht aber untergeht? Oder gibt es
dergleichen nichts?
Kriton: Jawohl, denke ich wenigstens,
Sokrates.
Sokrates: Wohlan denn! Wenn wir nun das, was durch das Ungesunde
zerrüttet, durch das Gesunde aber gebessert wird, indem wir nicht der
Sachkundigen Meinung gehorchen, zerrüttet haben, lohnt es wohl noch zu leben
nach dessen Zerrüttung? Dies ist aber doch der Leib? Oder nicht?
Kriton:
Ja.
Sokrates: Lohnt es nun wohl, zu leben mit einem abgeschwächten und
zerrütteten Leibe?
Kriton: Keineswegs.
Sokrates: Allein, wenn jenes
zerrüttet ist, soll es doch noch lohnen zu leben, was eben durch Unrechthandeln
beschädigt wird, durch Rechthandeln aber gewinnt? Oder halten wir das etwa für
schlechter als den Leib, was es auch sei von dem unsrigen, worauf Gerechtigkeit
und Ungerechtigkeit sich beziehen?
Kriton: Keineswegs.
Sokrates: Sondern
für edler?
Kriton: Bei weitem.
Sokrates: Also keineswegs, o Bester, haben
wir das so seht zu bedenken, was die Leute sagen werden von uns, sondern was der
eine, der sich auf Gerechtes und Ungerechtes versteht, und die Wahrheit selbst.
So daß du schon hierin die Sache nicht richtig einleitest, wenn du vorträgst,
wir müßten auf die Meinung der Leute vom Gerechten, Schönen und Guten und dem
Gegenteil Bedacht nehmen. "Aber doch," könnte, wohl jemand sagen, "haben die
Leute es ja in ihrer Gewalt, uns zu töten".
Kriton: Offenbar freilich auch
dieses: und so könnte es leicht jemand sagen, o Sokrates.
Sokrates: Sehr
wahr. Allein, du Wunderlicher, nicht nur dieser Satz selbst, den wir
durchgenommen, erscheint mir wenigstens noch immer ebenso wie vorher; sondern
betrachte nun auch diesen, ob er uns noch fest steht oder nicht, daß man nämlich
nicht das Leben am höchsten achten muß, sondern das gut Leben?
Kriton:
Freilich besteht der.
Sokrates: Und daß das gut Leben mit dem gerecht und
sittlich Leben einerlei ist, besteht der oder besteht er nicht?
Kriton: Er
besteht.
Sokrates: Also von dem Eingestandenen aus müssen wir dieses erwägen, ob es
gerecht ist, daß ich versuche, von hier fortzugehen, ohne daß die Athener mich
fortlassen, oder nicht gerecht. Und wenn es sich als gerecht zeigt, wollen wir
es versuchen; wo nicht, es unterlassen. Die du aber vorbringst, o Kriton, die
Überlegungen wegen Verlust des Geldes und des Rufs und Erziehung der Kinder, -
sollten das nur nicht recht eigentlich Betrachtungen dieser Leute sein, die
leichtsinnig töten und ebenso auch hernach gern wieder lebendig machten, wenn
sie könnten, alles ohne Vernunft; und sollte nur nicht im Gegenteil für uns, da
ja unsere Rede es so festsetzt, gar nichts anderes zu überlegen sein, als wie
wir eben sagten, ob wir gerecht handeln werden, wenn wir denen, welche mich von
hier fortbringen wollen, Geld zahlen und Dank dazu, und wenn wir selbst dabei
mitwirken, ihr, indem ihr mich fortbringt, und ich, indem ich mich fortbringen
lasse, oder ob wir nicht in Wahrheit unrecht handeln werden, indem wir dies
alles tun? Und wenn sich zeigt, wir können dies nur ungerechterweise ausführen,
dann dürfen wir jenes, ob wir sterben müssen, wenn ich hier bleibe und mich
ruhig verhalte, oder was wir sonst erleiden, gar nicht in Anschlag bringen gegen
das Unrechthandeln.
Kriton: Schön dünkt mich das gesagt, Sokrates. Sieh aber,
was wir tun wollen!
Sokrates: Gemeinschaftlich, du Guter, wollen wir das
überlegen; und hast du etwas einzuwenden, wenn ich rede, so wende es ein, und
ich will dir folgen. Wo aber nicht, so höre auf, mir immer dieselbe Rede zu
wiederholen, ich solle wider der Athener Willen von hier fortgehn! Denn es ist
mir ja wohl viel wert, wenn du mich überredest, dieses zu tun, nur nicht wider
meinen Willen. Betrachte also den Anfang der Untersuchung, ob er dir genügt, und
suche das Gefragte zu beantworten nach deiner besten Meinung!
Kriton: Das
will ich versuchen.
Sokrates: Sagen wir, man müsse auf gar keine Weise
vorsätzlich Unrecht tun? Oder auf einige zwar, nur auf andere nicht?
Oder ist
auf keine Weise das Unrechthandeln weder gut noch schön, wie wir oft ehedem
übereingekommen sind, und wie auch jetzt eben gesagt worden ist? Oder sind uns
alle jene Behauptungen von ehedem seit diesen wenigen Tagen verschüttet?
Und so
lange, o Kriton, haben wir, so bejahrte Männer, nicht gemerkt, daß wir im
ernsthaftesten Gespräch miteinander doch nichts besser waren als die Kinder?
Oder verhält es sich ja auf alle Weise so, wie wir damals sagten, - die Leute
mögen es nun annehmen oder nicht, und es mag uns nun deshalb noch härter ergehen
als jetzt, oder auch besser, - das Unrechttun ist doch dem, der es tut,
schädlich und schändlich auf alle Weise? Wollen wir dies sagen oder
nicht?
Kriton: Das wollen wir.
Sokrates: Auf keine Weise also soll man
Unrecht tun?
Kriton: Nein freilich.
Sokrates: Also auch nicht der, dem
Unrecht geschehen ist, darf wieder Unrecht tun, wie die meisten glauben, wenn
man doch auf keine Weise Unrecht tun darf?
Kriton: Es scheint
nicht.
Sokrates: Und wie doch? Darf man mißhandeln, oder nicht?
Kriton:
Man darf es wohl nicht, Sokrates.
Sokrates: Aber wie? Wieder mißhandeln,
nachdem man schlecht behandelt worden ist, - ist das, wie die meisten sagen,
gerecht oder nicht?
Kriton: Auf keine Weise.Sokrates: Denn jemanden schlecht
behandeln, ist nicht unterschieden vom Unrecht tun.
Kriton: Wahr
gesprochen!
Sokrates: Also weder wiederbeleidigen darf man, noch irgend einen
Menschen mißhandeln, und wenn man auch von ihm erleidet, was es immer sei. Und
siehe wohl zu, Kriton, wenn du dies eingestehst, daß du es nicht gegen deine
Meinung eingestehst! Denn ich weiß wohl, daß nur wenige dieses glauben und
glauben werden. Welche also dies annehmen, und welche nicht, für die gibt es
keine gemeinschaftliche Beratschlagung; sondern sie müssen notwendig einander
gering achten, wenn einer des andern Entschließungen sieht. Überlege also auch
du recht wohl, ob du Gemeinschaft mit mir machst und dies auch annimmst und wir
hiervon unsere Beratung anfangen wollen, daß niemals weder beleidigen noch
wiederbeleidigen recht ist, noch auch, wenn einem Übles geschieht, sich dadurch
helfen, daß man wieder Übles zufügt; oder ob du abstehst und du keinen Teil
haben willst an diesem Anfang? Ich meinesteils habe schon immer dieses
angenommen und auch jetzt noch. Du aber, nimmst du irgend etwas anderes an, so
sprich und trage es vor: bleibst du aber bei dem Ehemaligen, so höre nun das
Weitere!
Kriton: Allerdings bleibe ich dabei und nehme es mit dir an. Also
rede!
Sokrates: Ich sage also hierauf weiter, oder vielmehr ich frage, ob,
was jemand jemandem Gerechtes versprochen hat, er auch leisten müsse, oder ob er
betrügen dürfe?
Kriton: Leisten muß er es.
Sokrates: Von hier aus nun
schaue um: Wenn wir, ohne die Stadt zu überreden, von hier weggehn, behandeln
wir dann jemanden schlecht, und zwar die, welchen es am wenigsten geschehen
sollte, oder nicht? Und halten wir fest an den, was wir Gerechtes versprochen
haben, oder nicht?
Kriton: Darauf weiß ich nicht zu antworten, Sokrates, was
du fragtest: denn ich verstehe es nicht.
Sokrates: Erwäge es denn so: Wenn,
indem wir von hier davonlaufen wollten, oder wie man dies sonst nennen soll, die
Gesetze kämen und das gemeine Wesen dieser Stadt, und uns in den Weg tretend
fragten: "Sage nur, Sokrates, was hast du im Sinne zu tun? Ist es nicht so, daß
du durch diese Tat, welche du unternimmst, uns, den Gesetzen, und also dem
ganzen Staat den Untergang zu bereiten gedenkst, soviel an dir ist? Oder dünkt
es dich möglich, daß jener Staat noch bestehe und nicht in gänzliche Zerrüttung
gerate, in welchem die abgetanen Rechtssachen keine Kraft haben, sondern von
Einzelmännern können ungültig gemacht und umgestoßen werden?" Was sollen wir
hierauf und auf mehr dergleichen sagen, Kriton? Denn noch gar vieles könnte
einer, und zumal ein Redner, vorbringen zum Besten dieses gefährdeten Gesetzes,
welches befiehlt, daß die geschlichteten Rechtssachen sollen gültig bleiben.
Oder sollen wir zu ihnen sagen: "Ja, die Stadt hat uns Unrecht getan und die
Klage nicht recht gerichtet?" Wollen wir dies sagen, oder was sonst?
Kriton:
Dies, beim Zeus!
Sokrates: Wie nun? Wenn die Gesetze sagten: "O Sokrates, war
denn auch das unser Abkommen, oder vielmehr du wollest dich dabei beruhigen, wie
die Stadt die Rechtssachen schlichtet?" Wenn wir uns nun über ihre Rede
wunderten, würden sie vielleicht sagen: Wundere dich nicht, Sokrates, über das
Gesagte, sondern antworte, da du ja gewohnt bist, in Fragen und Antworten zu
reden! Denn sprich: Welche Beschwerden hast du gegen uns und die Stadt, daß du
suchst, uns zugrunde zu richten?
Sind wir es nicht zuerst, die dich zur Welt
gebracht haben, und durch welche dein Vater deine Mutter bekommen und dich
gezeugt hat? Erkläre also, tadelst du etwas an denen unter uns Gesetzen, die
sich auf die Ehe beziehen, was nicht gut wäre?" - "Nichts tadle ich," würde ich
dann sagen. - "Aber an den Gesetzen über des Geborenen Auferziehung und
Unterricht, nach denen auch du bist unterrichtet worden? Ist es etwa nicht gut,
was die Gesetze unter uns, die hierüber festgesetzt sind, gebieten, indem sie
deinem Vater auflegten, dich in den Geistesübungen und Leibeskünsten zu
unterrichten?" - "Sehr gut", würde ich sagen. - "Wohl! Nachdem du nun geboren,
auferzogen und unterrichtet worden bist, kannst du zuerst wohl leugnen, daß du
nicht unser warst als Abkömmling und Knecht, du und deine Vorfahren? Und wenn
sich dies so verhält, glaubst du, daß du gleiches Recht hast mit uns, und daß,
was immer wir uns beigehen lassen, dir anzutun, auch du das Recht habest, uns
wieder zu tun? Oder hattest du gegen deinen Vater zwar nicht gleiches Recht oder
gegen deinen Herrn, wenn du einen gehabt hättest, so daß du, was dir geschähe,
ihm wieder antun dürfest, noch auch, wenn er dich verunglimpfte, widersprechen,
noch, wenn er dich schlug, wiederschlagen und mehreres dergleichen: gegen das
Vaterland aber und gegen die Gesetze soll es dir erlaubt sein, so daß, wenn wir
darauf ausgingen, dich zugrundezurichten, indem wir es für gerecht hielten, auch
du wieder auf unsern, der Gesetze und des Vaterlandes Untergang, so viel an dir
ist, ausgehen und dann sagen dürftest, du handeltest hierin recht, du, der sich
in Wahrheit der Tugend befleißigt? Oder bist du so weise, daß du nicht weißt,
wie viel höher als Vater und Mutter und alle anderen Vorfahren das Vaterland
geachtet ist, und wieviel ehrwürdiger und heiliger bei den Göttern und bei allen
Menschen, welche Vernunft haben?
Und wie man ein aufgebrachtes Vaterland noch
mehr ehren und ihm nachgeben und es besänftigen muß als einen Vater, und
entweder es überzeugen oder tun, was es befiehlt, und was es zu leiden auflegt,
ganz ruhig leiden, wenn es auch wäre, dich schlagen zu lassen oder dich fesseln
zu lassen, oder wenn es dich in den Krieg schickt, wo du verwundet und getötet
werden kannst, du dies doch alles tun mußt und es so allein recht ist? Und daß
du nicht weichen und nicht weggehen und nicht deine Stelle verlassen mußt,
sondern im Kriege und vor Gericht und überall tun mußt, was der Staat gebietet
und das Vaterland, oder es überzeugen mußt, was eigentlich Recht sei? Daß aber
Gewalt nicht ohne Frevel gebraucht werden kann gegen Vater oder Mutter und noch
viel weniger als gegen sie gegen das Vaterland?" - Was sollen wir hierauf sagen,
o Kriton? Daß es wahr ist, was die Gesetze sagen, oder nicht?
Kriton: Mich
dünkt, ja.
Sokrates: "Überlege also, o Sokrates," würden die Gesetze
vielleicht weiter sagen, "wenn wir hiervon mehr gesprochen haben, daß du alsdann
nicht mit Recht uns das antun willst, was du jetzt willst: Denn wir, die wir
dich zur Welt gebracht, auferzogen, unterrichtet und alles Gute, was nur in
unserm Vermögen stand, dir und jedem Bürger mitgeteilt haben, wir verkünden
dennoch, indem wir Freiheit gestatten jedem Athener, der es nur will, daß, wenn
jemand Bürger geworden ist und den Zustand der Stadt und uns, die Gesetze,
kennengelernt hat und wir ihm dann nicht gefallen, er das Seinige nehmen und
fortgehn dürfe, wohin er nur will.
Und keins von uns Gesetzen steht im Wege oder
verbietet, wenn jemand von euch, dem wir und die Stadt nicht gefallen, in eine
Pflanzstadt ziehen will oder auch anderswohin sich begeben und sich als
Schutzverwandter ansiedeln, wo er nur will, mit Beibehaltung alles des Seinigen.
Wer von euch aber geblieben ist, nachdem er gesehen, wie wir die Rechtssachen
schlichten und sonst die Stadt verwalten, - von dem behaupten wir dann, daß er
uns durch die Tat angelobt habe, was wir nur immer befehlen möchten, wolle er
tun. Und wer nicht gehorcht, sagen wir, der tue dreifach Unrecht, weil er uns
als seinen Erzeugern nicht gehorcht und nicht als seinen Erziehern, und weil er,
ohnerachtet er uns angelobt, er wolle gewiß gehorchen, doch weder gehorcht noch
uns überzeugt, wo wir etwas nicht recht tun; und da wir ihm doch vortragen und
nicht aufrauhe Artgebieten, was wir anordnen, sondern freistellen eins von
beiden, entweder uns zu überzeugen oder uns zu folgen, er doch hiervon keines
tut. Und diese Verschuldungen nun, behaupten wir, werden auch auf dir, Sokrates,
haften, wenn du ausführst, was du im Sinne hast, und zwar auf dir nicht am
wenigsten unter den andern Athenern, sondern wohl ganz vorzüglich." - Wenn ich
nun fragte: "Weshalb denn das?" - so würden sie mich wohl ganz recht angreifen,
wenn sie sprächen, daß ich ganz vorzüglich vor andern Athenern ihnen dies
Versprechen geleistet hätte. "Denn", würden sie sagen, "hiervon haben wir große
Beweise, daß wir sowohl als die Stadt dir Wohlgefallen haben: Sonst würdest du
ja wohl nicht so vorzüglich vor allen Athenern immer einheimisch darin geblieben
sein, wenn sie dir nicht vorzüglich gefiele. Denn weder bist du je zur Schau der
großen Feste aus der Stadt herausgegangen, außer einmal auf den Isthmos, noch
sonst irgend wohin anders als nur mit dem Heere ziehend, oder hast sonst eine
Reise gemacht, wie andere Menschen, noch auch hat dich jemals Lust angewandelt,
andere Städte und andere Gesetze zu sehen, sondern wir genügten dir und unsere
Stadt: so sehr zogst du uns vor und gelobtest, uns gemäß dein Bürgerleben zu
führen, hast auch überdies Kinder in der Stadt erzeugt, weil sie dir gefiel. Ja
auch noch während des Rechtshandels konntest du dir ja die Verweisung zuerkannt
haben, wenn du gewollt hättest, und so, was du jetzt gegen den Willen der Stadt
unternimmst, damals mit ihrem Willen tun. Du aber tatest damals zwar gar schön,
als wärest du gar nicht unwillig, wenn du sterben müßtest, sondern wähltest, wie
du sagtest, lieber als die Verweisung den Tod: nun hingegen schämst du dich
weder vor jenen deinen Reden, noch scheust du uns, die Gesetze, sondern
versuchst, uns zu zerstören, und handelst, wie nur der schlechteste Knecht
handeln könnte, in dem du zu entlaufen versuchst gegen alle Verträge und
Versprechungen, nach denen du uns versprochen hast, als Bürger zu leben. Zuerst
also beantworte uns nur dieses, ob wir die Wahrheit reden, indem wir behaupten,
du habest nach unserer Anordnung dein Bürgerleben zu führen uns durch die Tat
versprochen, nicht bloß durch Worte, - oder ob wir nicht die Wahrheit reden?" -
Was sollen wir hierauf sagen, Kriton? Sollen wir es nicht einräumen?
Kriton:
Wir müssen wohl, Sokrates.
Sokrates: "Ist es also nicht so," würden sie
sagen, "daß du deine Verträge mit uns und deine Versprechungen übertrittst? Die
du doch nicht gezwungen abgelegt hast, noch überlistet, noch in der
Notwendigkeit, etwa dich in kurzer Zeit zu beraten, sondern siebzig Jahre lang,
während deren du hättest fortgehn können, wenn wir dir nicht gefielen und du die
Bedingungen nicht für gerecht hieltest. Du aber hast weder Lakedaimon vorgezogen
noch Kreta, die du doch immer rühmst als wohlgeordnete Staaten, noch irgend
einen andern von den hellenischen Staaten oder von den unhellenischen, sondern
weniger hast du dich von hier entfernt als die Lahmen, Blinden und andere
Verstümmelten. So vorzüglich vor allen Athenern hat dir die Stadt gefallen, und
wir, die Gesetze, also auch. Denn wem würde eine Stadt wohl gefallen ohne die
Gesetze? Und nun also willst du doch dem Versprochenen nicht treu bleiben? Wohl
wirst du es, wenn du uns folgst, o Sokrates, und du wirst dich nicht lächerlich
machen durch deinen Auszug aus der Stadt. Denn erwäge nur, wenn du es
übertrittst und etwas davon verletzest, was du Gutes dir selbst bereiten wirst
und deinen Freunden! Denn daß deine Freunde ja freilich in Gefahr geraten
werden, auch selbst flüchtig zu werden und der Stadt entsagen zu müssen, oder
ihr Vermögen einzubüßen, das ist wohl offenbar. Du selbst aber, wenn du zuerst
in eine der nächstgelegenen Städte gehst, sei es nach Theben oder nach Megara,
denn wohleingerichtet sind beide, so kommst du als ein Feind ihrer Verfassung;
und wer nur seiner eignen Stadt zugetan ist, wird dich scheel ansehen als einen
Verderber der Gesetze, und so wirst du nur das Ansehen deiner Richter
befestigen, daß sie dafür gelten werden, in deiner Sache recht gerichtet zu
haben: denn wer der Gesetze Verderber ist, muß wohl gar sehr dafür gehalten
werden, auch der jüngeren und noch unvernünftigen Menschen Verderber zu sein.
Willst du also etwa die wohleingerichtetsten Staaten und die ehrenwertesten
Menschen meiden?
Und wenn du dieses tust, wird es dir etwa noch lohnen zu leben?
Oder willst du dich zu ihnen halten und unverschämt genug sein, was doch für
Reden vorzubringen, o Sokrates? Oder dieselben wie hier, daß über Tugend und
Gerechtigkeit nichts gehe für den Menschen und über Ordnungen und Gesetze? Und
glaubst du nicht, des Sokrates Sache werde dann ganz unanständig erscheinen?
Wohl muß man das glauben! Aber aus diesen Gegenden wirst du dich wohl fortmachen
und dich nach Thessalien begeben zu den Gastfreunden des Kriton! Denn dort sind
ja Unordnung und Ungebundenheit am größten, und die möchten dir wohl mit
Vergnügen zuhören, wie lächerlich du aus dem Gefängnis entlaufen bist, in irgend
ein Stück Zeug eingehüllt oder mit einem gemeinen Kittel umgetan, oder wie sich
sonst die Entfliehenden zu verkleiden pflegen, und nachdem du dich ganz
unkenntlich gemacht. Daß du aber als ein alter Mann, dem wahrscheinlich nur noch
wenig Lebenszeit übrig ist, dich nicht gescheut hast, mit solcher Gier nach dem
Leben zu gelüsten mit Übertretung jedes heiligsten Gesetzes, wird das niemand
sagen? Vielleicht nicht, wenn du niemanden beleidigst; sonst aber, o Sokrates,
dann wirst du auch viel deiner Unwürdiges hören müssen. Kriechend also vor allen
Menschen wirst du leben; und was denn tun als schmausen in Thessalien? So daß du
wie zum Gastgebot wirst hingereist scheinen nach Thessalien! Und jene Reuen von
der Gerechtigkeit und von den übrigen Tugenden, wo werden uns die bleiben?
Doch
deiner Kinder wegen willst du leben, um sie selbst aufzuziehen und zu
unterrichten! Wie also? Nach Thessalien willst du sie mitnehmen und dort
aufziehen und unterrichten? Und sie zu Fremdlingen machen, damit sie dir auch
das noch zu verdanken haben? Oder das wohl nicht; aber hier sollten sie, wenn du
nur lebst, besser aufgezogen und unterrichtet werden, obgleich du nicht bei
ihnen bist? Deine Freunde nämlich werden sich ihrer annehmen. Ob nun wohl, wenn
du nach Thessalien wanderst, sie sich ihrer annehmen werden, wenn du aber in die
Unterwelt wanderst, dann nicht? Wenn sie anders etwas wert sind, die deine
Freunde zu sein behaupten, so muß man es ja wohl glauben. Also, Sokrates,
gehorche uns, deinen Erziehern, und achte weder die Kinder noch das Leben noch
irgend etwas anderes höher als das Recht, damit, wenn du in die Unterwelt
kommst, du dies alles zu deiner Verteidigung anführen kannst den dortigen
Herrschern. Denn es zeigt sich ja weder hierfür dich besser oder gerechter oder
frömmer, dies wirklich auszuführen, oder für irgend einen der Deinigen, noch
auch wird es, wenn du dort ankommst, besser für dich sein. Sondern wenn du jetzt
hingehst, so gehst du hin als einer, der Unrecht erlitten hat, nicht zwar von
uns Gesetzen, sondern von Menschen. Entfliehst du aber, so schmählich Unrecht
und Böses mit gleichem vergeltend, deine eignen Versprechungen und Verträge mit
uns verletzend und allen denen Übles zufügend, denen du es am wenigsten
solltest, dir selbst nämlich, deinen Freunden, dem Vaterlande und uns, - so
werden nicht nur wir auf dich zürnen, solange du lebst, sondern auch unsere
Brüder, die Gesetze der Unterwelt, werden dich nicht freundlich aufnehmen, wenn
sie wissen, daß du auch uns zugrunde zu richten versucht hast, soviel an dir
war. Also, daß ja nicht Kriton mehr dich überrede, zu tun, was er sagt, als
wir!" Dies, lieber Freund Kriton, glaube ich zu hören, wie die, welche das
Ohrenklingen haben, die Flöte zu hören glauben. Denn auch in mir klingt so der
Ton dieser Reden und macht, daß ich andere nicht hören kann. Also wisse nur, was
meine jetzige Überzeugung betrifft, daß, wenn du etwas hiergegen sagst, du es
vergeblich reden wirst. Dennoch aber, wenn du glaubst, etwas damit auszurichten,
so sprich!
Kriton: Nein, Sokrates, ich habe nichts zu sagen.
Sokrates:
Wohl denn, Kriton! So laß uns auf diese Art handeln, da uns hierhin der Gott
leitet.
Phaidon
Echekrates: Warest du selbst, o Phaidon, bei dem Sokrates
an jenem Tage, als er das Gift trank in dem Gefängnis, oder hast du es von
einem andern gehört?
Phaidon: Selbst war ich da, o Echekrates.
Echekrates: Was also hat denn der Mann gesprochen vor seinem Tode, und wie
ist er gestorben? Gern hörte ich das. Denn weder von meinen Landsleuten, den
Phliasiern, reiset jetzt leicht einer nach Athen, noch ist von dorther seit
geraumer Zeit ein Gastfreund angekommen, der uns etwas Genaues darüber berichten
konnte, außer nur, daß er das Gift getrunken hat und gestorben ist; von dem
übrigen wußte keiner etwas zu sagen.
Phaidon: Auch von der Klage also habt ihr nichts erfahren, wie es dabei hergegangen
ist?
Echekrates: Ja, das hat uns jemand erzählt, und wir haben uns gewundert,
daß, da sie schon längst abgeurteilt war, er offenbar erst weit später gestorben
ist. Wie war doch das, o Phaidon?
Phaidon: Durch Zufall fügte es sich so, Echekrates. Es traf sich nämlich,
daß gerade an dem Tage vor dem Gericht das Schiff bekränzt worden war, welches
die Athener nach Delos senden.
Echekrates: Was hat es damit auf sich?
Phaidon: Dies ist das Schiff, wie die Athener sagen, worin einst Theseus
fuhr, um jene zweimal sieben nach Kreta zu bringen, die er rettete und sich
selbst auch. Damals nun hatten sie dem Apollon gelobt, wie man sagt, wenn sie
gerettet würden, ihm jedes Jahr einen Aufzug nach Delos zu senden, welchen sie
nun seitdem immer und auch jetzt noch jährlich an den Gott senden. Sobald nun
dieser Aufzug angefangen hat, ist es gesetzlich, während dieser Zeit die Stadt
rein zu halten und von Staats wegen niemanden zu töten, bis das Schiff in Delos
angekommen ist und auch wieder zurück. Und dies währt bisweilen lange, wenn
widrige Winde einfallen. Des Aufzuges Anfang ist aber, wenn der Priester des
Apollon das Vorderteil des Schiffes bekränzt; und dies, wie ich sage, war eben
den Tag vor dem Gerichtstage geschehen. Daher hatte Sokrates so viel Zeit in
dem Gefängnis zwischen dem Urteil und dem Tode.
Echekrates: Wie war es aber bei seinem Tode selbst, o Phaidon? Was wurde
gesprochen und vorgenommen? Welche von seinen Vertrauten waren bei dem Manne?
Oder ließ die Behörde sie nicht zu ihm, und er starb ohne Beisein von Freunden?
Phaidon: Keineswegs, sondern es waren deren, und zwar ziemlich viele, zugegen.
Echekrates: Alles dieses bemühe dich doch uns recht genau zu erzählen, wenn
es dir nicht etwa an Muße fehlt!
Phaidon: Nein, ich habe Muße und will versuchen, es euch zu erzählen. Denn
des Sokrates zu gedenken, sowohl selbst von ihm redend als auch anderen zuhörend,
ist mir immer von allem das Erfreulichste.
Echekrates: Und eben solche, o Phaidon, hast du jetzt zu Hörern. Also versuche
nur, alles, so genau du immer kannst, uns vorzutragen!
Phaidon: Mir meinesteils war ganz wunderbar zumute dabei. Bedauern nämlich
kam mir gar nicht ein als wie einem, der bei dem Tode eines vertrauten Freundes
zugegen sein soll; denn glückselig erschien mir der Mann, o Echekrates, in seinem
Benehmen und seinen Reden, wie standhaft und edel er endete, so daß ich vertraute,
er gehe auch in die Unterwelt nicht ohne göttlichen Einfluß, sondern auch dort
werde er sich Wohlbefinden, wenn jemals einer sonst. Darum nun kam mich weder
etwas Weichherziges an, wie man doch denken sollte bei solchem Trauerfall, noch
auch waren wir fröhlich wie in unsern philosophischen Beschäftigungen nach gewohnter
Weise, obwohl unsere Unterredungen auch von dieser Art waren; sondern in einem
wunderbaren Zustande befand ich mich und in einer ungewohnten Mischung, die
aus Lust zugleich und Betrübnis zusammengemischt war, wenn ich bedachte, daß
Er nun gleich sterben würde. Und alle Anwesenden waren fast in derselben Gemütsstimmung,
bisweilen lachend, dann wieder weinend, ganz vorzüglich aber einer unter uns,
Apollodoros. Du kennst ja wohl den Mann und seine Weise.
Echekrates: Wie sollte ich nicht?
Phaidon: Der war nun ganz vorzüglich so; aber auch ich war gleichermaßen
bewegt und die übrigen.
Echekrates: Welche aber waren denn gerade da, Phaidon?
Phaidon: Eben dieser Apollodoros war von den Einheimischen zugegen, und Kritobulos
mit seinem Vater Kriton; dann noch Hermogenes und Epigenes und Aischines und
Antisthenes. Auch Ktesippos aus Paiania war da, und Menexenos und einige andere
von den Einheimischen; Platon aber, glaube ich, war krank.
Echekrates: Waren auch noch Fremde zugegen?
Phaidon: Ja, Simmias aus Theben, und Kebes und Phaidondes, und aus Megara
Eukleides und Terpsion.
Echekrates: Wie aber Aristippos und Kleombrotos, waren die da?
Phaidon: Nein, es hieß, sie wären in Aigina.
Echekrates: War noch sonst jemand gegenwärtig?
Phaidon: Ich glaube, dies waren sie ziemlich alle.
Echekrates: Und wie nun weiter? Was für Reden, sagst du, wurden geführt?
Phaidon: Ich will versuchen, dir alles von Anfang an zu erzählen. Wir pflegten
nämlich auch schon die vorigen Tage immer zum Sokrates zu gehen, ich und die
andern, und versammelten uns des Morgens im Gerichtshause, wo auch das Urteil
gefällt worden war; denn dies ist nahe bei dem Gefängnis. Da warteten wir jedesmal,
bis das Gefängnis geöffnet wurde, und unterredeten uns unterdessen. Denn es
wurde nicht sehr früh geöffnet; sobald es aber offen war, gingen wir hinein
zum Sokrates und brachten den größten Teil des Tages bei ihm zu. Auch damals
nun hatten wir uns noch früher versammelt, weil wir tags zuvor, als wir abends
aus dem Gefängnis gingen, erfahren hatten, daß das Schiff aus Delos angekommen
sei. Wir gaben uns also einander das Wort, auf das früheste an dem gewohnten
Ort zusammenzukommen. Das taten wir auch, und der Türsteher, der uns aufzumachen
pflegte, kam heraus und sagte, wir sollten warten und nicht eher kommen, bis
er uns riefe. »Denn«, sprach er, »die Elf lösen jetzt den Sokrates und kündigen
ihm an, daß er heute sterben soll«. Nach einer kleinen Weile kam er denn und
hieß uns hineingehn.
Als wir nun hineintraten, fanden wir den Sokrates eben entfesselt, und Xanthippe
(du kennst sie doch), sein Söhnchen auf dem Arm haltend, saß neben ihm. Als
uns Xanthippe nun sah, wehklagte sie und redete allerlei dergleichen, wie die
Frauen pflegen, wie: »O Sokrates, nun reden diese deine Freunde zum letztenmale
mit dir, und du mit ihnen!« Da wendete sich Sokrates zum Kriton und sprach:
»O Kriton, laß doch jemand diese nach Hause führen!« Da führten einige von Kritons
Leuten sie ab, heulend und sich übel gebärdend. Sokrates aber, auf dem Bette
sitzend, zog das Bein an sich und rieb sich den Schenkel mit der Hand, indem
er zugleich sagte: Was für ein eigenes Ding, ihr Männer, ist es doch um das,
was die Menschen angenehm nennen, wie wunderlich es sich verhält zu dem, was
ihm entgegengesetzt zu sein scheint, dem Unangenehmen, daß nämlich beide zu
gleicher Zeit zwar nie in dem Menschen sein wollen, doch aber, wenn einer dem
einen nach- geht und es erlangt, er meist immer genötigt ist, auch das andere
mitzunehmen, als ob sie zwei an einer Spitze zusammengeknüpft wären; und ich
denke, wenn Aisopos dies bemerkt hätte, würde er eine Fabel daraus gemacht haben,
daß Gott beide, da sie im Kriege begriffen sind, habe aussöhnen wollen und,
weil er dies nicht gekonnt, sie an den Enden zusammengeknüpft habe, und deshalb
nun, wenn jemand das eine hat, komme ihm das andere nach. So scheint es nun
auch mir gegangen zu sein: weil ich von der Fessel in dem Schenkel vorher Schmerz
hatte, so kommt mir nun die angenehme Empfindung hintennach.
Darauf nahm Kebes das Wort und sagte: Beim Zeus, Sokrates, das ist gut, daß
du mich daran erinnerst. Denn nach deinen Gedichten, die du gemacht hast, indem
du die Fabeln des Aisopos in Verse gebracht, und nach dem Vorgesang an den Apollon
haben mich auch andere schon gefragt, und noch neulich Euenos, wie es doch zugehe,
daß, seitdem du dich hier befindest, du Verse machest, da du es zuvor nie getan
hast. Ist dir nun etwas daran gelegen, daß ich dem Euenos zu antworten weiß,
wenn er mich wieder fragt, und ich weiß gewiß, das wird er, - so sprich, was
ich ihm sagen soll!
Sage ihm denn, sprach er, o Kebes, die Wahrheit, daß ich es nicht tue, um
etwa gegen ihn und seine Gedichte aufzutreten, denn das, wüßte ich wohl, wäre
nicht leicht, sondern um zu versuchen, was wohl ein gewisser Traum meine, und
mich vor Schaden zu hüten, wenn etwa dies die Musik wäre, die er mir anbefiehlt.
Es war nämlich dieses: es ist mir oft derselbe Traum vorgekommen in dem nun
vergangenen Leben, der mir, bald in dieser, bald in jener Gestalt erscheinend,
immer dasselbe sagte:
»O Sokrates«, sprach er, »mach und treibe Musik!«
Und
ich dachte sonst immer, nur zu dem, was ich schon tat, ermuntere er mich und
treibe mich noch mehr an, und wie man die Laufenden anzutreiben pflegt, so ermuntere
mich auch der Traum zu dem, was ich schon tat, Musik zu machen, weil nämlich
die Philosophie die vortrefflichste Musik ist und ich diese doch trieb. Jetzt
aber, seit das Urteil gefällt ist und die Feier des Gottes meinen Tod noch verschoben
hat, dachte ich doch, ich müsse, falls etwa der Traum mir doch befehle, mit
dieser gemeinen Musik mich zu beschäftigen, auch dann nicht ungehorsam sein,
sondern es tun. Denn es sei doch sicherer, nicht zu gehn, bis ich mich auch
so vorgesehen und Gedichte gemacht, um dem Traum zu gehorchen. So habe ich denn
zuerst auf den Gott gedichtet, dem das Opfer eben gefeiert wurde; und nächst
dem Gott, weil ich bedachte, daß ein Dichter, wenn er ein Dichter sein wolle,
Fabeln dichten müsse und nicht vernünftige Reden, und ich selbst nicht erfindsam
bin in Fabeln, so habe ich deshalb von denen, die bei der Hand waren und die
ich wußte, den Fabeln des Aisopos, die, welche mir eben aufstießen, in Verse
gebracht. Dieses also, o Kebes, sage dem Euenos, und er solle Wohlleben und,
wenn er klug wäre, mir nachkommen. Ich gehe aber, wie ihr seht, heute, denn
die Athener befehlen es.
Da sagte Simmias; Was läßt du doch da dem Euenos sagen, o Sokrates? Ich habe
schon viel mit dem Manne verkehrt; aber soviel ich gemerkt, wird er auch nicht
die mindeste Lust haben, dir zu folgen.
Wieso? fragte er, ist Euenos nicht ein Philosoph?
Das dünkt mich doch, sprach Simmias.
Nun, so wird er auch wollen, er und jeder, der würdig an diesem Geschäfte
teilnimmt. Nur Gewalt wird er sich doch nicht selbst antun; denn dies, sagen
sie, sei nicht recht.
Und als er dies sagte, ließ er seine Beine von dem Bett wieder herunter auf
die Erde, und so sitzend sprach er das übrige.
Kebes fragte ihn nun: Wie meinst du das, o Sokrates, daß es nicht recht sei,
sich selbst Leides zu tun, daß aber doch der Philosoph dem Sterbenden zu folgen
wünsche?
Wie, Kebes? Habt ihr über diese Dinge nichts gehört, du und Simmias, als
ihr mit dem Philolaos zusammenwaret?
Nichts Genaues wenigstens, Sokrates. Auch ich kann freilich nur vom Hörensagen
davon reden; was ich aber gehört, bin ich gar nicht abgeneigt, euch zu sagen.
Auch ziemt es sich ja wohl am besten, daß der, welcher im Begriff ist, dorthin
zu wandern, nachsinne und sich Bilder mache über die Wanderung dorthin, wie
man sie sich wohl zu denken habe. Was könnte einer auch wohl noch weiter tun
in der Zeit bis zum Untergang der Sonne?
Weshalb also sagen sie, es sei nicht recht, sich selbst zu töten, o Sokrates?
Denn ich habe dies auch schon, wonach du eben fragtest, vom Philolaos gehört,
als er sich bei uns aufhielt, und auch schon von andern, daß man dies nicht
tun dürfe. Genaues aber habe ich von keinem jemals etwas darüber gehört.
So mußt du dich noch weiter bemühen, sagte er, du kannst es ja wohl noch
hören. Vielleicht aber kommt es dir auch wunderbar vor, daß dies allein unter
allen Dingen schlechthin so sein soll, und auf keine Weise, wie doch sonst überall,
nur bisweilen und nur für einige Menschen: nämlich es sei besser zu sterben
als zu leben. Und denen nun besser wäre zu sterben, wird dir wunderbar vorkommen,
daß es diesen Menschen nicht erlaubt sein solle, sich selbst wohlzutun, sondern
daß sie einen andern Wohltäter erwarten sollen.
Da sagte Kebes etwas lächelnd und in seiner Mundart: Das mag Gott wissen.
Es kann freilich so scheinen, unvernünftig zu sein, sprach Sokrates, aber
es hat doch auch wieder einigen Grund. Denn was darüber in den Geheimlehren
gesagt wird, daß wir Menschen wie in einer Feste sind und man sich aus dieser
nicht selbst losmachen und davongehen dürfe, das erscheint mir doch als eine
gewichtige Rede und gar nicht leicht zu durchschauen. Wie denn auch dieses,
o Kebes, mir ganz richtig gesprochen scheint, daß die Götter unsere Hüter und
wir Menschen eine von den Herden der Götter sind. Oder dünkt es dich nicht so?
Allerdings wohl, sagte Kebes.
Also auch du würdest gewiß, wenn ein Stück aus deiner Herde sich selbst tötete,
ohne daß du angedeutet hättest, daß du wolltest, es solle sterben, diesem zürnen
und, wenn du noch eine Strafe wüßtest, es bestrafen?
Ganz gewiß, sagte er.
Auf diese Weise nun wäre es also wohl nicht unvernünftig, daß man nicht eher
sich selbst töten dürfe, bis der Gott irgend eine Notwendigkeit dazu verfügt
hat, wie die jetzt uns gewordene?
Dieses freilich, sagte Kebes, scheint ganz billig. Was du jedoch vorher sagtest,
daß jeder Philosoph gern werde sterben wollen, dieses, o Sokrates, kommt dann
ungereimt heraus; wenn doch, was wir eben sagten, sich richtig so verhält, daß
Gott es ist, der uns hütet, und daß wir zu seiner Herde gehören. Denn daß nicht
die Vernünftigsten gerade am unwilligsten aus dieser Pflege sich entfernen sollten,
wo diejenigen für sie sorgen, welche die besten Versorger sind für alles, was
ist, die Götter, das ist gar nicht zu denken. Denn sie können ja nicht glauben,
daß sie sich selbst besser hüten werden, wenn sie frei geworden sind; sondern
nur ein unvernünftiger Mensch könnte das vielleicht glauben, daß es gut wäre,
von seinem Herrn zu fliehen, und könnte nicht bedenken, daß man ja von dem Guten
nicht fliehen muß, sondern sich soviel als möglich daran halten, und daß er
also unvernünftigerweise fliehen würde; der Vernünftige aber würde immer streben,
bei dem zu sein, der besser wäre als er. Und so käme ja wohl, o Sokrates, das
Gegenteil von dem heraus, was eben gesagt ward: den Vernünftigen nämlich ziemte
es, ungern zu sterben, und nur den Unvernünftigen gern.
Als dies Sokrates angehört hatte, schien er mir seine Freude zu haben an
des Kebes Eifer in der Sache, und indem er uns ansah, sagte er: Immer spürt
doch Kebes irgend Gründe aus und will sich gar nicht leicht überreden lassen
von dem, was einer behauptet.
Darauf sagte Simmias; aber jetzt, o Sokrates, scheint auch mir etwas an dem
zu sein, was Kebes vorbringt. Denn weshalb doch sollten wohl wahrhaft weise
Männer von besseren Herren, als sie selbst sind, fliehen und sich gern von ihnen
losmachen; Und zwar scheint mir Kebes mit seiner Rede auf dich zu zielen, daß
du es so leicht erträgst, uns zu verlassen und auch jene guten Herrscher, wie
du selbst gestehst, die Götter.
Ihr habt recht, sprach er. Ich denke nämlich, ihr meint, ich solle mich hierüber
verteidigen wie vor Gericht.
Allerdings, sagte Simmias.
Wohlan denn, sprach er, laßt mich versuchen, ob ich mich mit besserem Erfolg
vor euch verteidigen kann als vor den Richtern. Nämlich, sprach er, o Simmias
und Kebes, wenn ich nicht glaubte, zuerst zu andern Göttern zu kommen, die auch
weise und gut sind, und dann auch zu verstorbenen Menschen, welche besser sind
als die hiesigen, so täte ich vielleicht unrecht, nicht unwillig zu sein über
den Tod. Nun aber wisset nur, daß ich zu wackeren Männern zu kommen hoffe; und
wenn ich auch das nicht so ganz sicher behaupten wollte, - doch daß ich zu Göttern
komme, die ganz treffliche Herren sind, wisset nur, wenn irgend etwas von dieser
Art, will ich dieses gewiß behaupten. So daß ich eben deshalb nicht so unwillig
bin, sondern der frohen Hoffnung, daß es etwas gibt für die Verstorbenen und,
wie man ja schon immer gesagt hat, etwas weit Besseres für die Guten als für
die Schlechten.
Wie nun, o Sokrates? sagte Simmias, gedenkst du diese Meinung für dich zu
behalten und so von uns zu gehn, oder möchtest du uns auch davon mitteilen?
Mich wenigstens dünkt, dies müsse ein gemeinsames Gut sein auch für uns; und
zugleich wird ja eben das deine Verteidigung sein, wenn du uns von dem, was
du sagst, überzeugst.
So will ich es denn versuchen, sprach er. Zuvor aber laßt uns doch von unserem
Kriton hören, was es doch ist, was er mir schon lange sagen will?
Was sonst, o Sokrates, sprach Kriton, als daß der, welcher dir den Trank
bereiten soll, mir schon lange zuredet, man müsse dir andeuten, doch ja so wenig
als möglich zu sprechen. Denn er sagt, durch das Reden erhitze man sich, und
das vertrage sich nicht mit dem Trank; wenn aber doch, so hätten die bisweilen
zwei-, auch dreimal trinken müssen, die dergleichen getan.
Darauf sagte Sokrates: Ach, laß ihn laufen! Mag er nur seinerseits sich anschicken,
mir auch zweimal zu geben, und wenn es nötig wäre, auch dreimal.
Das wußte ich wohl fast vorher, sagte Kriton; aber er ließ mir schon lange
keine Ruhe.
Laß ihn, sprach er.
Euch Richtern aber will ich nun Rede darüber stehen, daß ich mit Grunde der
Meinung bin, ein Mann, welcher wahrhaft philosophisch sein Leben vollbracht,
müßte getrost sein, wenn er im Begriff ist zu sterben, und der frohen Hoffnung,
daß er dort Gutes in vollem Maß erlangen werde, wann er gestorben ist.
Wie das
nun so sein möge, o Simmias und Kebes, das will ich versuchen, euch deutlich
zu machen. Nämlich diejenigen, die sich auf rechte Art mit der Philosophie befassen,
mögen wohl, ohne daß es freilich die andern merken, nach gar nichts anderm streben,
als nur zu sterben und tot zu sein. Ist nun dieses wahr, so wäre es ja wohl
wunderlich, wenn sie ihr ganzes Leben hindurch zwar sich um nichts anderes bemühten
als um dieses, wenn es nun aber selbst käme, hernach wollten unwillig sein über
das, wonach sie lange gestrebt und sich bemüht haben.
Da lachte Simmias und sagte: Beim Zeus, Sokrates, wiewohl ich jetzt eben
nicht im mindesten lachlustig bin, hast du mich doch lachen gemacht. Ich denke
nämlich, wenn die Leute so dies hörten, würden sie glauben, dies sei ganz vortrefflich
gesagt gegen die Philosophen, und würden zumal bei uns gewiß gewaltig beistimmen,
es sei so, die Philosophen sehnten sich wirklich zu sterben, und sie ihrerseits
wüßten auch, daß sie wohl verdienten, dies zu erlangen. Da würden sie auch ganz wahr sprechen, o Simmias, das eine ausgenommen, daß
sie das recht gut wüßten. Denn weder wissen sie, wie die wahrhaften Philosophen
den Tod wünschen, noch wie sie ihn verdienen [und was für einen Tod]. Laßt uns
nun, sprach er, jenen den Abschied geben, zu uns selbst aber sagen, ob - wir
wohl glauben, daß der Tod etwas sei?
Allerdings, fiel Simmias ein.
Und wohl etwas anderes als die Trennung der Seele von dem Leibe? Und daß
das heiße »tot sein«, wenn abgesondert von der Seele der Leib für sich allein
ist und auch die Seele abgesondert von dem Leibe für sich allein ist? Oder sollte
wohl der Tod etwas anderes sein als dieses?
Nein, sondern eben dieses.
So bedenke denn. Guter, ob auch dich dasselbe bedünkt wie mich; denn hieraus,
glaube ich, werden wir das besser erkennen, wonach wir fragen. Scheint dir,
daß es sich für einen philosophischen Mann gehöre, sich Mühe zu geben um die
sogenannten Lüste, wie um die am Essen und Trinken?
Nichts weniger wohl, o Sokrates,
sprach Simmias.
Oder um die aus dem Geschlechtstriebe?
Keineswegs.
Und die übrige Besorgung des Leibes, glaubst du, daß ein solcher sie groß
achte? Wie z.B. schöne Kleider und Schuhe und andere Arten von Schmuck des Leibes
zu haben, glaubst du, daß er es achte oder verachte, mehr als höchst nötig ist,
sich hierum zu kümmern?
(Jesus sagt im TE: "Sorgt euch nicht vom Morgen bis zum Abend und vom Abend bis zum
Morgen, was ihr anziehen werdet!")
Verachten, dünkt mich wenigstens, wird es der wahrhafte Philosoph.
Dünkt dich also nicht überhaupt eines solchen ganze Beschäftigung nicht um
den Leib zu sein, sondern soviel nur möglich von ihm abgekehrt und der Seele
zugewendet?
(Jesus sagte im TE: "Erbärmlich ist der Leib, der vom Leibe abhängt. Erbärmlich ist
die Seele, die von beiden abhängt.")
Das dünkt mich.
Also hierin zuerst zeigt sich der Philosoph als ablösend seine Seele von
der Gemeinschaft mit dem Leibe vor den übrigen Menschen allen?
Offenbar.
Und die meisten Menschen meinen doch, o Simmias, wem dergleichen nicht süß
ist, und wer daran keinen Teil hat, dem lohne es nicht, zu leben, sondern ganz
nahe sei der am Totsein, der sich um die angenehmen Empfindungen nicht bekümmere,
welche durch den Leib kommen.
Du sprichst vollkommen recht.
Wie aber nun mit dem Erwerb der richtigen Einsicht selbst, - ist dabei der
Leib im Wege oder nicht, wenn ihn jemand bei dem Streben danach zum Gefährten
mit aufnimmt? Ich meine so: Gewähren wohl Gesicht und Gehör den Menschen einige
Wahrheit? Oder singen uns selbst die Dichtet das immer vor, daß wir nichts genau
hören noch sehen? Und doch, wenn unter den Wahrnehmungen, die dem Leibe angehören,
diese nicht genau sind und sicher, dann die andern wohl gar nicht - denn alle
sind ja wohl schlechter als diese -; oder dünken sie dich das nicht?
Freilich, sagte er.
Wann also trifft die Seele die Wahrheit? Denn wenn sie mit dem Leibe versucht
etwas zu betrachten, dann offenbar wird sie von diesem hintergangen.
Richtig.
Wird also nicht in dem Denken, wenn irgendwo, ihr etwas von dem Seienden
offenbar?
Ja.
Und sie denkt offenbar am besten, wenn nichts von diesem sie trübt, weder
Gehör noch Gesicht noch Schmerz und Lust, sondern wenn sie am meisten ganz für
sich ist, den Leib gehn läßt und, soviel irgend möglich, ohne Gemeinschaft und
Verkehr mit ihm dem Seienden nachgeht.
So ist es.
Also auch dabei verachtet des Philosophen Seele am meisten den Leib, flieht
von ihm und sucht für sich allein zu sein?
So scheint es.
Wie nun hiermit, o Simmias? Sagen wir, daß das Gerechte etwas sei oder nichts?
Wir behaupten es ja freilich, beim Zeus.
Und nicht auch das Schöne und Gute?
Wie sollte es nicht?
Hast du nun wohl schon jemals hiervon das mindeste mit Augen gesehen?
Keineswegs, sprach er.
Oder mit sonst einer Wahrnehmung, die vermittelst des Leibes erfolgt, es
getroffen? Ich meine aber alles dieses, Größe, Gesundheit, Stärke und mit einem
Worte von allem insgesamt das Wesen, was jegliches wirklich ist; wird etwa vermittelst
des Leibes hiervon das eigentlich Wahre geschaut, oder verhält es sich so: wer
von uns am meisten und genauesten es darauf anlegt, jegliches selbst unmittelbar
zu denken, was er untersucht, der kommt auch am nächsten daran, jegliches zu
erkennen?
Allerdings.
Und der kann doch jenes am reinsten ausrichten, der am meisten mit dem Gedanken
allein zu jedem geht, ohne weder das Gesicht mit anzuwenden beim Denken noch
irgend einen anderen Sinn mit zuzuziehen bei seinem Nachdenken, sondern, sich
des reinen Gedankens allein bedienend, auch jegliches rein für sich zu fassen
trachtet, soviel möglich geschieden von Augen und Ohren und, um es kurz zu sagen,
von dem ganzen Leibe, der nur verwirrt und die Seele nicht Wahrheit und Einsicht
erlangen läßt, wenn er mit dabei ist. Ist es nicht ein solcher, o Simmias, der,
wenn irgend einer, das Wahre treffen wird?
Über die Maßen hast du recht, o Sokrates, sprach Simmias.
Ist es nun nicht natürlich, daß durch dieses alles eine solche Meinung bei
den wahrhaft Philosophierenden aufkommt, so daß sie auch dergleichen unter sich
reden: Es wird uns ja wohl gleichsam ein Fußsteig heraustragen mit der Vernunft
in der Untersuchung, weil, solange wir noch den Leib haben und unsere Seele
mit diesem Übel im Gemenge ist, wir nie befriedigend erreichen können, wonach
uns verlangt; und dieses, sagen wir doch, sei das Wahre. Denn der Leib macht
uns tausenderlei zu schaffen wegen der notwendigen Nahrung; dann auch, wenn
uns Krankheiten zustoßen, verhindern uns diese, das Wahre zu erjagen, und auch
mit Gelüsten und Begierden, Furcht und mancherlei Schattenbildern und vielen
Kindereien erfüllt er uns; so daß recht in Wahrheit, wie man auch zu sagen pflegt,
wir um seinetwillen nicht einmal dazu kommen, auch nur irgend etwas richtig
einzusehen. Denn auch Kriege und Unruhen und Schlachten erregt uns nichts anderes
als der Leib und seine Begierden: denn über den Besitz von Geld und Gut entstehen
alle Kriege, und dieses müssen wir haben des Leibes wegen, weil wir seiner Pflege
dienstbar sind, und daher fehlt es uns an Muße, der Weisheit nachzutrachten
um aller dieser Dinge willen wegen alles dessen. Und endlich noch, wenn es uns
auch einmal Muße läßt und wir uns anschicken, etwas zu untersuchen, so fällt
er uns wieder bei den Untersuchungen selbst beschwerlich, macht uns Unruhe und
Störung und verwirrt uns, daß wir seinetwegen nicht das Wahre sehen, können.
Sondern es ist uns wirklich klar, daß, wenn wir je etwas rein erkennen wollen,
wir uns von ihm losmachen und mit der Seele selbst die Dinge selbst schauen
müssen. Und dann erst offenbar werden wir haben, was wir begehren und wessen
Liebhaber wir zu sein behaupten, die Weisheit, wenn wir tot sein werden, wie
die Rede uns andeutet, solange wir leben aber nicht.
Denn wenn es nicht möglich
ist, mit dem Leibe irgend etwas rein zu erkennen, so können wir nur eines von
beiden: entweder niemals zum Verständnis gelangen oder nach dem Tode. Denn alsdann
wird die Seele für sich allein sein, abgesondert vom Leibe, vorher aber nicht.
Und solange wir leben, werden wir, wie sich zeigt, nur dann dem Erkennen am
nächsten sein, wenn wir so viel wie möglich nichts mit dem Leibe zu schaffen
noch gemein haben, was nicht höchst nötig ist, und wenn wir mit seiner Natur
uns nicht anfüllen, sondern uns von ihm rein halten, bis der Gott selbst uns
befreit.
Und so rein der Torheit des Leibes entledigt, werden wir wahrscheinlich
mit eben solchen zusammen sein und durch uns selbst alles Ungetrübte erkennen,
und dies ist eben wohl das Wahre. Dem Nichtreinen aber mag Reines zu berühren
wohl nicht vergönnt sein. Dergleichen meine ich, o Simmias, werden notwendig
alle wahrhaft Wißbegierigen denken und untereinander reden. Oder dünkt dich
nicht so?
Auf alle Weise, o Sokrates.
Wenn nun, sprach Sokrates, dieses wahr ist, o Freund, so ist ja große Hoffnung,
daß, wenn ich dort angekommen bin, wohin ich jetzt gehe, ich dort, wenn irgendwo,
zur Genüge dasjenige erlangen werde, worauf alle unsere Bemühungen in dem vergangenen
Leben gezielt haben; so daß die mir jetzt aufgetragene Wanderung mit guter Hoffnung
anzutreten ist auch für jeden andern, der nur glauben kann, dafür gesorgt zu
haben, daß seine Seele rein ist.
Allerdings, sprach Simmias.
Und wird nicht das eben die Reinigung sein, was schon immer in unserer Rede
vorgekommen ist, daß man die Seele möglichst vom Leibe absondere und sie gewöhne,
sich von allen Seiten her aus dem Leibe für sich zu sammeln und zusammenzuziehen
und so viel als möglich, sowohl gegenwärtig, als hernach, für sich allein zu
bestehen, befreit, wie von Banden, von dem Leibe?
Allerdings, sagte er.
Heißt aber dies nicht Tod: Erlösung und Absonderung der Seele von dem Leibe?
Allerdings, sagte jener.
Und sie zu lösen streben immer am meisten, sagte er, nur allein die wahrhaft
Philosophierenden; und eben dies also ist das Geschäft der Philosophen: Befreiung
und Absonderung der Seele von dem Leibe; oder nicht?
Offenbar.
Also wäre es ja, wie ich anfänglich sagte, lächerlich, wenn ein Mann, der
sich in seinem ganzen Leben darauf eingerichtet hätte, so nahe als möglich an
dem Gestorbensein zu leben, hernach, wenn eben dieses kommt, sich ungebärdig
stellen wollte? Wäre das nicht lächerlich?
Wie sollte es nicht?
In der Tat also, o Simmias, trachten die richtig Philosophierenden danach,
zu sterben, und der Tod ist ihnen unter allen Menschen am wenigsten furchtbar.
Erwäge es nur so:
Wenn sie auf alle Weise mit dem Leibe entzweit sind und begehren,
die Seele für sich allein zu haben, geschieht dieses aber, dann sich fürchten
und unwillig sein wollten, - wäre das nicht die größte Torheit, wenn sie dann
nicht mit Freuden dahin gehen wollten, wo sie Hoffnung haben, dasjenige zu erlangen,
was sie im Leben liebten - sie liebten aber die Weisheit -, und des Zusammenseins
mit demjenigen entledigt zu werden, was ihnen zuwider war?
Oder sollten nur
viele, denen menschliche Geliebte und Weiber und Kinder gestorben sind, freiwillig
haben in die Unterwelt gehen wollen, von dieser Hoffnung getrieben, daß sie
dort die wiedersehn würden, nach denen sie sich sehnten, und mit ihnen umgehn
würden; wer aber die Weisheit wahrhaft liebt und eben diese Hoffnung kräftig
aufgefaßt hat, daß er sie nirgend anders nach Wunsch erreichen werde als in
der Unterwelt, den sollte es verdrießen, zu sterben, und er sollte nicht freudig
dorthin gehn?
Das muß man ja wohl glauben, Freund, wenn er nur wahrhaft ein
Weisheitsliebender ist. Denn gar stark wird ein solcher dieses glauben, daß
er nirgend anders die Wahrheit rein antreffen werde als nur dort. Wenn sich
aber dies so verhält, wie ich eben sagte, wäre es nicht große Unvernunft, wenn
ein solcher den Tod fürchtete?
Gar große, beim Zeus, sagte jener.
Also, sagte er, ist dir auch das wohl ein hinlänglicher Beweis von einem
Manne, wenn du ihn unwillig siehst, indem er sterben soll, daß er nicht die
Weisheit liebte, sondern den Leib irgendwie; denn wer den liebt, der ist auch
geldsüchtig und ehrsüchtig, entweder eines von beiden oder beides.
Vollkommen verhält es sich so, wie du sagst.
Wird nun nicht auch, o Simmias, sagte er, was man Tapferkeit nennt, den so
Gesinnten vorzüglich zukommen?
Ganz gewiß wohl, antwortete er.
Nicht auch die Besonnenheit, was auch alle Leute Besonnenheit nennen: sich
von Begierden nicht fortreißen lassen, sondern sich gleichgültig gegen sie verhalten
und sittsam, - kommt nicht auch sie denen allein zu, welche den Leib am meisten
geringschätzen und in der Liebe zur Weisheit leben?
Notwendig, sagte er.
Denn, fügte jener hinzu, wenn du nur recht betrachten willst die Tapferkeit
und Besonnenheit der andern, so wird sie dir ganz wunderlich vorkommen.
Wie das, o Sokrates?
Du weißt doch, sagte er, daß den Tod die andern alle unter die großen Übel
rechnen?
Allerdings.
Ist es also nicht aus Furcht vor noch größeren Übeln, daß die Tapfern unter
ihnen den Tod erdulden, wenn sie ihn erdulden?
So ist es.
Also weil sie sich fürchten, und aus Furcht sind alle tapfer, bis auf die,
welche die Weisheit lieben. Wiewohl das doch ungereimt ist, daß einer aus Furcht
und Feigheit tapfer sein soll.
Freilich wohl.
Und wie die Sittsamen unter ihnen? Hat es mit denen nicht dieselbe Bewandtnis?
Aus irgend einer Zügellosigkeit sind sie besonnen, wiewohl wir freilich sagen,
dies sei unmöglich; aber doch geht es ihnen wirklich ganz ähnlich bei dieser
einfältigen Besonnenheit. Denn aus Besorgnis, einiger Lust beraubt zu werden,
und weil sie diese begehren, enthalten sie sich der einen, weil von anderen
beherrscht; und wiewohl man das Zügellosigkeit nennt, von Lüsten beherrscht
werden, begegnet ihnen doch, daß sie, von Lüsten beherrscht, andere Lüste beherrschen,
und dies ist doch dem ganz ähnlich, was eben gesagt wurde: auf gewisse Weise
aus Zügellosigkeit besonnen geworden zu sein.
Das leuchtet ein.
O bester Simmias, daß uns also nur nicht dies gar nicht der rechte Tausch
ist, um Tugend zu erhalten, Lust gegen Lust und Unlust gegen Unlust und Furcht
gegen Furcht austauschen und Größeres gegen Kleineres, wie Münze; sondern jenes
die einzige rechte Münze, gegen die man alles dieses vertauschen muß, die Vernünftigkeit,
und nur alles, was mit dieser und für diese verkauft ist und eingekauft, in
Wahrheit allein Tapferkeit ist und Besonnenheit und Gerechtigkeit, und überhaupt
wahre Tugend nun mit Vernünftigkeit ist, mag nun Lust und Furcht und alles übrige
der Art dabei sein oder nicht dabei sein; werden aber diese, abgesondert von
der Vernünftigkeit, gegen einander umgetauscht, eine solche Tugend dann immer
nur ein Schattenbild ist und in der Tat knechtisch, die nichts Gesundes und
Wahres an sich hat, das Wahre aber gerade Reinigung von dergleichen allem ist,
und Besonnenheit und Gerechtigkeit und Tapferkeit und die Vernünftigkeit selbst
Reinigungen sind. Und so mögen auch diejenigen, welche uns die Weihen angeordnet
haben, gar nicht schlechte Leute sein, sondern schon seit langer Zeit uns andeuten,
wenn einer ungeweiht und ungeheiligt in der Unterwelt anlangt, daß der in den
Schlamm zu liegen kommt, der Gereinigte aber und Geweihte, wenn er dort angelangt
ist, bei den Göttern wohnt.
Denn, sagen die, welche mit den Weihen zu tun haben,
Thyrsosträger sind viele, doch echte Begeisterte wenig.
(Jesus
sagte im TE: "Oh Herr, es sind viele um die Brunnen herum, es ist aber niemand in
dem Brunnen.")
Diese aber sind, nach
meiner Meinung, keine anderen, als die sich auf rechte Weise der Weisheit beflissen
haben, deren einer zu werden auch ich nach Vermögen im Leben nicht versäumt,
sondern mich auf alle Weise bemüht habe. Ob ich mich aber auf die rechte Weise
bemüht und etwas vor mich gebracht habe, das werden wir, dort angekommen, sicher
erfahren, wenn Gott will, binnen kurzem, wie mich dünkt. Dieses nun, sprach
er, o Simmias und Kebes, ist meine Verteidigung darüber, daß euch und die hiesigen
Gebieter zu verlassen mir mit Recht nicht schwer fällt noch mich verdrießt,
weil ich dafür halte, auch dort nicht minder vortreffliche Gebieter und Freunde
anzutreffen als hier; den meisten aber ist dies unglaublich. Bin ich also für
euch überzeugender gewesen in meiner Verteidigung als für die athenischen Richter,
so ist es gut.
Als Sokrates dieses geredet, fiel Kebes ein und sprach:
O Sokrates, das andere
dünkt mich alles gar schön gesagt; nur das von wegen der Seele findet großen
Unglauben bei den Menschen, ob sie nicht, wenn sie vom Leibe getrennt ist, nirgend
mehr ist, sondern an jenem Tage umkommt und untergeht, an welchem der Mensch
stirbt, und sobald sie von dem Leibe sich trennt und ausfährt wie ein Hauch
oder Rauch, auch zerstoben ist und verflogen, und nirgend nichts mehr ist.
Denn
wäre sie noch wo für sich bestehend und zusammenhaltend, wenn erlöst von diesen
Übeln, die du eben beschrieben hast, so wäre ja große und schöne Hoffnung, o
Sokrates, daß alles wahr sei, was du sagst. Aber dies bedarf vielleicht nicht
geringer Überredungsgründe und Beweise, daß die Seele noch ist nach dem Tode
des Menschen und noch irgend Kraft und Einsicht hat.
Du sprichst ganz wahr, sagte Sokrates, o Kebes; aber was sollen wir machen?
Sollen wir eben das miteinander durchsprechen, ob es wahrscheinlich ist, daß
es sich so verhalte, oder ob nicht?
Ich mindestens, sagte Kebes, möchte gern hören, was für eine Meinung du hierüber
hast.
Wenigstens glaube ich nicht, sprach Sokrates, daß irgend einer, der es hört,
und wäre es auch ein Komödienschreiber, sagen dürfte, daß ich leeres Geschwätz
treibe und Reden führe über ungehörige Dinge.
Dünkt es euch nun und sollen wir
die Sache in Erwägung ziehn, so laßt uns so betrachten, ob die Seelen, nachdem
die Menschen gestorben, in der Unterwelt sind, oder ob nicht.
Eine alte Rede
gibt es nun freilich, deren wir uns erinnern, daß, wie sie von hier dorthin
gekommen sind, sie auch wieder hierher zurückkehren und wieder geboren werden
aus den Toten.
Und wenn sich dies so verhält, daß die Lebenden wieder geboren
werden aus den Gestorbenen, so sind ja wohl unsere Seelen dort? Denn sie könnten
nicht wieder geboren werden, wenn sie nicht wären.
Und ein hinreichender Beweis
wäre dies, daß es so ist, wenn wirklich offenbar würde, daß die Lebenden nirgend
anders herkämen als von den Toten. Wenn dies aber nicht so ist, dann bedürften
wir eines andern Grundes.
Gewiß, sagte Kebes.
Betrachte es nur nicht allein an Menschen, fuhr jener fort, wenn du es eher
innewerden willst, sondern auch an den Tieren insgesamt und den Pflanzen; und
überhaupt an allem, was eine Entstehung hat, laß uns zusehen, ob etwa alles
so entsteht, nirgend andersher, als jedes aus seinem Gegenteil, was nur ein
solches hat, wie doch das Schöne von dem Häßlichen das Gegenteil ist und das
Gerechte von dem Ungerechten, und ebenso tausend anderes sich verhält. Dieses
also laß uns sehen, ob nicht notwendig, was nur ein Entgegengesetztes hat, nirgend
andersher selbst entsteht, als aus diesem ihm Entgegengesetzten. So wie z.B.:
wenn etwas größer wird, muß es doch notwendig aus irgend vorher Kleinergewesenem
hernach größer werden?
Ja.
Nicht auch, wenn es kleiner wird, wird es aus vorher Größerem hernach kleiner?
So ist es, sagte er.
Und ebenso aus Stärkerem das Schwächere, und aus Langsamerem das Schnellere?
Gewiß.
Und wie? Wenn etwas schlechter wird, nicht aus Besserem? Und wenn gerechter,
nicht aus Ungerechterem?
Wie sonst?
Dies also, sprach er, haben wir sicher genug, daß alle Dinge so entstehen:
das Entgegengesetzte aus dem Entgegengesetzten?
Freilich.
Und wie? Gibt es nicht auch so etwas dabei, wie zwischen jeglichem Entgegengesetzten,
was doch immer zwei sind, auch ein zwiefaches Werden von dem einen zu dem andern
und von diesem wieder zu jenem zurück? Denn zwischen dem Größeren und Kleineren
ist Wachstum und Abnahme, und so nennen wir auch das eine Wachsen, das andere
Abnehmen?
Ja, sagte er.
Nicht auch Aussondern und Vermischen, Abkühlen und Erwärmen, und so alles,
wenn wir auch bisweilen die Worte dazu nicht haben, muß sich doch der Sache
nach überall so verhalten, daß eines aus dem andern entsteht, und daß es ein
Werden von ledern zu dem andern gibt?
Gewiß.
Wie nun? fuhr er fort, ist dem Leben auch etwas entgegengesetzt, wie dem
Wachen das Schlafen?
Gewiß, sagte er.
Und was?
Das Totsein, sagte er.
Also entstehen diese auch aus einander, wenn sie entgegengesetzt sind, und
es gibt zwischen ihnen zweien ein zwiefaches Werden?
Wie sollte es nicht?
Die Verknüpfungen nun des einen Paars von den ebengenannten Dingen will ich
dir aufzeigen, sprach Sokrates, und das dazu gehörige Werden, du aber mir die
andern. Ich sage nämlich, das eine sei Schlafen und das andere Wachen, und aus
dem Schlafen werde das Wachen und aus dem Wachen das Schlafen, und dies Werden
beider sei das Einschlafen und das Aufwachen; habe ich es dir hinlänglich erklärt
oder nicht?
Vollkommen.
Sage du mir also nun ebenso von Leben und Tod! Sagst du nicht, dem Leben
sei das Totsein entgegengesetzt?
Das sage ich.
Und daß beides aus einander entstehe?
Ja.
Aus dem Lebenden also, was entsteht?
Das Tote, sprach er.
Und was aus dem Toten?
Notwendig, sprach er, muß man eingestehn: das Lebende.
Aus dem Gestorbenen also, o Kebes, entsteht das Lebende und die Lebenden?
So zeigt es sich, sprach er.
Also sind, sprach er, unsere Seelen in der Unterwelt.
So scheint es.
Und nicht wahr, auch von dem Werden, was hierzu gehört, ist das eine deutlich
genug? Denn Sterben ist doch deutlich genug, oder nicht?
Freilich, sagte er.
Was wollen wir aber nun machen? sprach er. Wollen wir nicht auch das entgegengesetzte
Werden hinzunehmen, sondern soll die Natur von dieser Seite lahm sein? Oder
müssen wir nicht notwendig auch ein dem Sterben entgegengesetztes Werden annehmen?
Auf alle Weise, sagte er.
Und was für eines?
Das Aufleben.
Also, sprach er, wenn es ein Aufleben gibt, so wäre eben dieses das Werden
der Lebenden aus dem Toten, das Aufleben?
Freilich.
(Jesus sagte
im TE: "Der in seinen Tagen alte Mann wird nicht zögern, ein kleines Kind
(im Alter) von sieben Tagen nach dem Ort des Lebens zu fragen, und er wird
leben, denn viele Erste werden Letzte sein und sie werden ein Einziger
werden.")
Also auch auf diese Weise kommt es uns heraus, daß die Lebenden aus den Toten
entstanden sind, nicht weniger als die Toten aus den Lebenden. Ist dies nun
so, so schien es uns ja ein hinreichender Beweis, daß die Seelen der Verstorbenen
wo sein müssen, woher sie wieder lebend werden.
Mich dünkt, o Sokrates, dem Eingestandenen gemäß müsse es sich so verhalten.
Siehe nun auch, o Kebes, sprach er, daß wir nichts mit Unrecht eingestanden
haben, wie mich dünkt: Denn wenn nicht dem auf die eine Art Gewordenen immer
das auf die andere Art entspräche und das Werden wie im Kreise herumginge, sondern
es ein gerade fortschreitendes Werden gäbe nur aus dem einen in das Gegenüberstehende,
ohne daß dies sich wieder wendete und zum andern zurückkäme, so siehst du wohl,
daß am Ende alles einerlei Gestalt haben und in einerlei Zustand sich befinden
und aufhören würde zu werden?
Wie meinst du das? fragte er.
Es ist gar nicht schwer, sagte er, zu begreifen, was ich meine; sondern wie
wenn das Einschlafen zwar wäre, ein Aufwachen aber entspräche ihm nicht, das
aus dem Schlafenden würde, so, weißt du wohl, würde am Ende alles beweisen,
Endymion sei nur eine Posse und nirgend anzutreffen, weil es auch allem andern
ebenso erginge wie ihm, daß es schliefe; und wie wenn alles immer vermischt
würde und nicht gesondert, bald jenes Wort des Anaxagoras sich einstellen würde:
Alle Dinge zumal. Wurde nicht ebenso auch, lieber Kebes, wenn alles zwar stürbe,
was am Leben Anteil hat, nachdem es aber gestorben wäre, das Tote immer in dieser
Gestalt bliebe und nicht wieder auflebte, ganz notwendig zuletzt alles tot sein
und nichts leben? Denn wenn zwar aus dem andern das Lebende würde, das Lebende
aber stürbe, - wie wäre denn zu helfen, daß nicht zuletzt alles im Totsein aufginge?
Gar nicht, denke ich, o Sokrates, sagte Kebes; sondern du scheinst mir durchaus
richtig zu reden.
Es ist auch, o Kebes, sagte er, wie mich dünkt, auf alle Weise so, und nicht
etwa überlistet gestehen wir dieses ein: sondern es gibt in der Tat ein Wiederaufleben
und ein Werden der Lebenden aus den Toten und ein Sein der Seelen der Gestorbenen,
und zwar für die Guten ein Bessersein, für die Schlechten aber ein Schlechteres.
Und eben das auch, sprach Kebes einfallend, nach jenem Satz, o Sokrates,
wenn er richtig ist, den du oft vorzutragen pflegtest, daß unser Lernen nichts
anders ist als Wiedererinnerung, und daß wir deshalb notwendig in einer früheren
Zeit gelernt haben müßten, wessen wir uns wiedererinnern, und daß dies unmöglich
wäre, wenn unsere Seele nicht schon war, ehe sie in diese menschliche Gestalt
kam; so daß auch hiernach die Seele etwas Unsterbliches sein muß.
Aber, o Kebes, sprach Simmias einfallend, welches sind davon die Beweise?
Erinnere mich daran: denn in diesem Augenblick besinne ich mich nicht recht
darauf.
Nur an den einen schönsten, sagte Kebes, daß, wenn die Menschen gefragt werden
und einer sie nur recht zu fragen versteht, sie alles selbst sagen, wie es ist,
da doch, wenn ihnen keine Erkenntnis einwohnte und richtige Einsicht, sie nicht
imstande Sein Würden, dieses zu tun. Und wenn man sie zu den geometrischen Figuren
führt oder etwas Ähnlichem, so zeigt sich dabei am deutlichsten, daß sich dies
so verhält.
Wenn du es aber so nicht glaubst, o Simmias, sagte Sokrates, so sieh zu,
ob du uns, wenn du es etwa folgendermaßen betrachtest, beifallen wirst: Du zweifelst
nämlich, wie doch das sogenannte Lernen könne Erinnerung sein?
Ich zweifle zwar, sprach Simmias, gerade nicht; nur eben dessen, wovon die
Rede ist, möchte ich lernen, erinnert zu werden; und fast schon aus dem, was
mir Kebes versucht hat zu sagen, habe ich mich besonnen und glaube es. Nichtsdestoweniger
aber würde ich jetzt gern hören, wie du es vorgetragen hast.
Ich folgendermaßen, sprach er: Wir gestehen doch wohl, daß, wenn sich einer
etwas erinnern soll, er dies vorher schon wissen muß.
Gewiß wohl.
Gestehen wir etwa auch dieses, daß, wenn einem Erkenntnis auf folgende Weise
kommt, dies Erinnerung sei? Ich meine aber diese Art: wenn jemand irgend etwas
sieht oder hört oder anderswie wahrnimmt und er dann nicht nur jenes erkennt,
sondern dabei noch ein anderes vorstellt, dessen Erkenntnis nicht dieselbe ist,
sondern eine andere, - ob wir dann nicht mit Recht sagen, daß er sich dessen
nicht erinnere, wovon er so eine Vorstellung bekommen hat?
Wie meinst du das?
So wie z.B. folgendes: Eine ganz andere Vorstellung ist doch die von einem
Menschen und die von einer Leier?
Wie sollte sie nicht?
Du weißt aber doch, daß Liebhabern, wenn sie eine Leier sehen oder ein Kleid
oder sonst etwas, was ihr Liebling zu gebrauchen pflegt, es so ergeht: sie erkennen
die Leier, und in ihrer Seele nehmen sie zugleich auf das Bild des Knaben, dem
die Leier gehört, und das ist nun Erinnerung, so wie auch einer, wenn er den
Simmias sieht, wohl leicht an den Kebes denkt, und tausenderlei dergleichen.
Tausenderlei, beim Zeus, sagte Simmias.
Und nicht wahr, sprach er, dergleichen ist nun Erinnerung, vorzüglich wenn
es einem bei solchen Dingen begegnet, die ihm, weil sie ihm seit langer Zeit
schon nicht vorgekommen und er nicht an sie gedacht, in Vergessenheit geraten
waren.
Allerdings, sagte er.
Wie nun? Kann man sich auch wohl, wenn man ein gemaltes Pferd sieht oder
eine gemalte Leier, eines Menschen dabei erinnern? Und wenn man den Simmias
gemalt sieht, sich des Kebes dabei erinnern?
Auch das freilich.
Auch wenn man den Simmias gemalt sieht, sich des Simmias selbst erinnern?
Das kann man freilich, sagte er.
Und nicht wahr, in allen diesen Fällen entsteht uns Erinnerung: das einemal
aus ähnlichen Dingen, das anderemal aus unähnlichen?
So entsteht sie.
Aber wenn nun einer bei ähnlichen Dingen sich etwas erinnert, muß ihm nicht
auch das noch dazu begegnen, daß er inne wird, ob diese etwas zurückbleiben
in der Ähnlichkeit, oder nicht, hinter dem, dessen er sich erinnert?
Notwendig, sagte er.
Wohlan denn, sprach jener, sieh zu, ob sich dies so verhält: Wir nennen doch
etwas gleich? Ich meine nicht, ein Holz dem andern oder einen Stein dem andern
noch irgend etwas dergleichen, sondern außer diesem allen etwas anderes, das
Gleiche selbst: sagen wir, daß das etwas ist oder nichts?
Gewiß, beim Zeus, sprach Simmias, ganz entschieden!
Erkennen wir auch dieses, was es ist?
Allerdings, sprach er.
Woher nahmen wir aber seine Erkenntnis? Nicht aus dem, was wir eben sagten!
Wenn wir Hölzer oder Steine oder irgend andere gleiche Dinge sahen, haben wir
nicht bei diesen uns jenes vorgestellt, was doch verschieden ist von diesen?
Oder scheint es dir nicht verschieden zu sein? Bedenke es nur auch so: Erscheinen
dir nicht gleiche Steine oder Hölzer, ganz dieselben bleibend, bisweilen als
gleich und dann wieder nicht?
O ja.
Wie aber? Die gleichen Dinge selbst erscheinen dir bisweilen als ungleich,
und etwa auch die Gleichheit als Ungleichheit?
Nimmermehr wohl, Sokrates.
Also, sprach er, sind jene gleichen Dinge und dieses Gleiche selbst nicht
dasselbe. Offenbar keineswegs, o Sokrates. Doch aber bei jenen Gleichen, verschieden
von diesem Gleichen, hast du die Erkenntnis des letzteren vorgestellt oder erhalten?
Vollkommen richtig.
Indem es jenen entweder ähnlich ist oder unähnlich?
Freilich.
Und das macht ja, sprach er, keinen Unterschied. Denn sooft du, etwas sehend,
von dieser Gesichtswahrnehmung aus dir noch ein anderes vorstellst, es sei nun
ähnlich oder unähnlich, so ist notwendig dieses Vorstellen eine Erinnerung gewesen.
Allerdings.
Wie aber weiter? sprach er; begegnet uns wohl so etwas bei den gleichen Hölzern
und andern, von denen wir eben sprachen? Scheinen sie uns ebenso gleich zu sein
wie das Gleiche selbst? Oder fehlt etwas daran, daß sie nicht so sind wie das
Gleiche, oder nichts?
Gar viel, sprach er, fehlt daran.
Müssen wir nun nicht gestehen, wenn jemand, der etwas sieht, bemerkt, dieses,
was ich hier sehe, will zwar sein wie etwas gewisses anderes, es bleibt aber
zurück und vermag nicht so zu sein wie jenes, sondern ist schlechter, - daß
der, welcher dies bemerkt, notwendig jenes vorher kennen muß, von dem er sagt,
daß das andere ihm zwar gleiche, aber doch dahinter zurückbleibe?
Notwendig.
Und wie? Geht es uns nun so mit den gleichen Dingen und dem Gleichen selbst?
Auf alle Weise.
Notwendig also kennen wir das Gleiche schon vor jener Zeit, als wir, zuerst
Gleiches erblickend, bemerkten, daß alles dergleichen strebe zu sein wie das
Gleiche, aber doch dahinter zurückbleibe?
So ist es.
Aber auch das geben wir doch zu, daß wir eben dieses nirgend andersher bemerkt
haben noch imstande sind, es zu bemerken, als bei dem Sehen oder Berühren oder
irgend einer andern Wahrnehmung, denn diese sind mir alle einerlei.
Sie sind auch einerlei, o Sokrates, für das, wohin unsere Rede will.
Aber doch an den Wahrnehmungen muß man bemerken, daß alles so in den Wahrnehmungen
Vorkommende jenem nachstrebt, was das Gleiche ist, und daß es dahinter zurückbleibt.
Oder wie wollen wir sagen?
So.
Ehe wir also anfingen, zu sehen oder zu hören oder die anderen Sinne zu gebrauchen,
mußten wir schon irgendwoher die Erkenntnis bekommen haben des eigentlich Gleichen,
was es ist, wenn wir doch das Gleiche in den Wahrnehmungen so auf jenes beziehen
sollten, daß dergleichen alles zwar strebt zu sein wie jenes, aber doch immer
schlechter ist.
Notwendig nach dem Vorhergesagten, o Sokrates.
Nun aber haben wir doch gleich von unserer Geburt an gesehen, gehört und
die anderen Sinne gebraucht?
Freilich.
Und wir mußten, sagen wir, schon ehe dieses geschah, die Erkenntnis des Gleichen
bekommen haben?
Ja.
Ehe wir also geboren wurden, müssen wir sie, wie sich zeigt, bekommen haben.
So zeigt es sich.
Wenn wir sie also vor unserer Geburt empfangen haben und in ihrem Besitz
geboren worden sind, so erkannten wir auch schon, ehe wir wurden und sobald
wir da waren, nicht das Gleiche nur und das Größere und Kleinere, sondern alles
dieser Art insgesamt? Denn es ist uns ja jetzt nicht eben mehr von dem Gleichen
die Rede, als auch von dem Schönen selbst und dem Guten selbst und dem Rechten
und Frommen und, wie ich sage, von allem, was wir bezeichnen als dies selbst,
was es ist, in unsern Fragen, wenn wir fragen, und in unsern Antworten, wenn
wir antworten. So daß wir notwendig von diesem allen die Erkenntnisse, schon
ehe wir geboren wurden, erhalten haben.
(Jesus sagt (Joh 8:58): "Ehe Abraham wurde, bin ich." )
So ist es.
Und daß wir, wenn wir sie nicht immer wieder vergäßen, nachdem wir sie bekommen,
auch immer wissen und uns ihrer das ganze Leben hindurch bewußt sein würden.
Denn das heißt ja »wissen«: eine empfangene Erkenntnis besitzen und nicht verloren
haben. Oder heißt das nicht »vergessen«, o Simmias: Verlust einer Erkenntnis?
Auf alle Weise, sagte er, o Sokrates.
Und wenn wir, meine ich, vor unserer Geburt sie besaßen und sie bei der Geburt
verloren haben, hernach aber beim Gebrauch unserer Sinne an solchen Gegenständen
eben jene Erkenntnisse wieder aufnahmen, die wir einmal schon vorher hatten,
ist dann nicht, was wir »lernen« heißen, das Wiederaufnehmen einer uns schon
angehörigen Erkenntnis? Und wenn wir dies »wiedererinnern« nennen, werden wir
es nicht richtig benennen?
Gewiß.
Denn das hatte sich uns doch als möglich gezeigt, daß, wer etwas wahrnimmt,
es sei nun durch Gesicht und Gehör oder irgendeinen anderen Sinn, dabei etwas
anderes vorstellen könne, was er vergessen hatte und was diesem nahekam als
unähnlich oder als ähnlich. Also, wie ich sage, eines von beiden: entweder sind
wir mit diesem Wissen geboren worden und wissen es unser Leben lang alle, oder
die, von denen wir sagen, daß sie hernach erst lernen, erinnern sich dessen
nur, und das Lernen wäre also eine Erinnerung.
Wohl gar sehr verhält es sich so, Sokrates.
Welches nun wählst du, o Simmias, daß wir wissend geboren werden, oder daß
wir uns hernach dessen erinnern, wovon wir schon vorher eine Er kenntnis gehabt
hatten?
So im Augenblick, o Sokrates, weiß ich nicht zu wählen.
Wie aber? Kannst du hier wählen, oder was dünkt dich hiervon: Muß ein wissender
Mann von dem, was er weiß, Rechenschaft geben können oder nicht?
Ganz notwendig, o Sokrates, sprach er.
Und dünkt dich denn, daß alle Rechenschaft zu geben imstande sind von dem,
was wir eben anführten?
Das wünschte ich wohl, sprach Simmias; aber ich fürchte vielmehr, es möchte
uns schon morgen hierzulande keiner mehr gefunden werden, der dies gehörig zu
tun vermöchte.
Du meinst also nicht, o Simmias, daß alle dieses wissen?
Keineswegs.
Also erinnern sie sich dessen, was sie einst gelernt hatten?
Notwendig.
Wann aber hatten unsere Seelen die Erkenntnis davon bekommen? Doch wohl nicht,
seitdem wir als Menschen geboren sind?
Nicht füglich.
Früher also?
Ja.
Also waren, o Simmias, die Seelen, auch ehe sie in menschlicher Gestalt waren,
ohne Leiber und hatten Einsicht.
Wenn wir nicht etwa bei der Geburt diese Erkenntnisse empfangen, o Sokrates:
denn diese Zeit bleibt uns noch übrig.
Gut, o Freund! Aber in welcher andern Zeit verlieren wir sie denn? Denn wir
haben sie nicht, wenn wir geboren werden, wie wir eben eingestanden. Oder verlieren
wir sie in derselben Zeit, in welcher wir sie auch empfangen? Oder weißt du
noch eine andere Zeit anzugeben?
Keineswegs, o Sokrates, sondern ich merkte nur nicht, daß ich nichts sagte.
Verhält es sich nun also nicht so mit uns, sprach er, o Simmias? Wenn das
etwas ist, was wir immer im Munde führen, das Schöne und Gute und jegliches
Wesen dieser Art, und wenn wir hierauf alles, was uns durch die Sinne kommt,
beziehen als auf ein vorher Gehabtes, was wir als das Unsrige wieder auffinden,
und wenn wir diese Dinge damit vergleichen, so muß notwendig, ebenso wie dieses
ist, so auch unsere Seele sein, auch ehe wir noch geboren worden sind. Wenn
aber alles dieses nichts ist, so wäre dann auch diese Rede vergeblich geredet.
Verhält es sich wohl so, und ist es die ganz gleiche Notwendigkeit, daß jenes
ist, und daß auch unsere Seelen sind auch vor unserer Geburt, und daß, wenn
jenes nicht, dann auch nicht dieses?
Über die Maßen, o Sokrates, sprach Simmias, dünkt es mich dieselbe Notwendigkeit
zu sein; und an einen sichern Ort rettet sich unser Satz, dahin nämlich, daß
unsere Seele auf dieselbe Weise ist, ehe wir noch geboren werden, wie jenes
alles, wovon du eben sprachest. Denn ich habe gar nichts, was mir so klar wäre
als eben dieses, daß alles dergleichen wahrhaft in dem allerhöchsten Sinne ist,
das Schöne und das Gute und was du sonst eben anführtest; und mir wenigstens
genügt der Beweis vollkommen.
Wie aber dem Kebes? sprach Sokrates. Denn wir müssen auch den Kebes überzeugen.
Gewiß auch ihn, sprach Simmias, wie ich glaube, wiewohl er der hartnäckigste
Mensch ist im Unglauben an anderer Reden. Allein davon, glaube ich, ist er nun
hinreichend überzeugt, daß, ehe wir geboren wurden, unsere Seele war. Ob aber
auch, nachdem wir gestorben sind, sie noch sein wird, das scheint auch mir selbst,
o Sokrates, noch nicht bewiesen zu sein, sondern es steht noch entgegen, wie
auch Kebes eben sagte, jene Rede der großen Menge, ob nicht, indem der Mensch
stirbt, die Seele zerstiebt und auch für sie dieses das Ende des Seins ist.
Denn was hindert doch, daß sie zwar anderwärtsher werde und bestehe und sei,
auch ehe sie in menschlichen Leib gelangt, daß aber doch, nachdem sie in diesen
gelangt ist, wenn sie von ihm getrennt wird, alsdann auch sie selbst endet und
untergeht? Wohlgesprochen, o Simmias, sagte Kebes. Denn es scheint gleichsam die eine
Hälfte von dem bewiesen zu sein, was wir brauchen, daß nämlich, ehe wir geboren
wurden, unsere Seele war; aber man muß noch dazu beweisen, daß auch, wenn wir
tot sind, sie um nichts weniger sein wird als vor unserer Geburt, wenn der Beweis
seine Vollendung bekommen soll.
Es ist doch, o Simmias und Kebes, sprach Sokrates, auch jetzt schon bewiesen,
wenn ihr diesen Satz zusammenbringen wollt mit jenem, den wir vorher zugestanden
hatten, daß nämlich alles Lebende aus dem Gestorbenen entsteht. Denn wenn die
Seele auch vorher schon ist, und wenn sie notwendig, indem sie ins Leben geht
und geboren wird, nirgend andersher kommen kann als aus dem Tode und dem Gestorbensein,
- wie sollte sie denn nicht notwendig, auch nachdem sie gestorben ist, sein,
wenn sie doch wiederum geboren werden soll; Bewiesen also ist dies, wie ich
sagte, auch jetzt schon. Dennoch scheint ihr, du und Simmias, gern auch diesen
Satz noch weiter durcharbeiten zu wollen und euch zu fürchten wie die Kinder,
daß nicht gar buchstäblich der Wind sie, wenn sie aus dem Leibe herausfährt,
auseinanderwehe und zerstäube, zumal wenn einer nicht etwa bei Windstille, sondern
in recht tüchtigem Sturmwinde stirbt.
Da sagte Kebes lächelnd: So tue denn so, als fürchteten wir uns, und versuche,
uns zu überreden! Lieber jedoch nicht, als ob wir selbst uns fürchteten, sondern
vielleicht ist auch in uns ein Kind, welches dergleichen fürchtet. Dieses also
wollen wir versuchen zu überzeugen, daß es den Tod nicht fürchten müsse wie
ein Gespenst.
Dieses müßt ihr, sprach Sokrates, täglich besprechen, bis ihr es herausbannt.
Woher aber, o Sokrates, sprach er, sollen wir einen tüchtigen Besprecher
zu solchen Dingen nehmen, nun du doch von uns scheidest?
Hellas ist noch groß, o Kebes, sagte er, und treffliche Männer sind darin,
und groß sind auch die Geschlechter der Barbaren, die ihr alle durchsuchen müßt,
um einen solchen Besprecher zu finden, ohne weder Geld zu scheuen noch Mühe.
Denn es gibt wohl nichts, worauf ihr das Geld besser wenden könntet. Aber auch
untereinander müßt ihr euch bemühen, denn ihr möchtet auch wohl nicht leicht
wen finden, der dies besser als ihr zu tun vermöchte.
Das soll gewiß geschehen, sprach Kebes; von wo wir aber abgegangen sind,
dahin laß uns zurückkehren, wenn es dir recht ist!
Mir gar sehr recht; wie sollte es nicht?
Wohlgesprochen, sagte er.
Also ungefähr so, sprach Sokrates, müssen wir uns selbst fragen: Welcherlei
Dingen kommt es wohl zu, dies zu erfahren, das Zerstieben, und für welche muß
man also fürchten, daß ihnen dieses begegne, welchen aber kommt es nicht zu?
Dann müssen wir untersuchen, zu welchen von beiden die Seele gehört, und hieraus
und demgemäß entweder Mut fassen oder besorgt sein für unsere Seelen?
Ganz richtig, sagte er.
Und nicht wahr, dem, was man zusammengesetzt hat und was seiner Natur nach
zusammengesetzt ist, kommt wohl zu, auf dieselbe Weise aufgelöst zu werden,
wie es zusammengesetzt worden ist; wenn es aber etwas Unzusammengesetztes gibt,
diesem, wenn sonst irgend einem, kommt wohl zu, daß ihm dieses nicht begegne?
Das scheint mir sich so zu verhalten, sprach Kebes.
Und nicht wahr, was sich immer gleich verhält und auf einerlei Weise, davon
ist wohl am wahrscheinlichsten, daß es das Unzusammengesetzte sei; was aber
bald so, bald anders und nimmer auf gleiche Weise, dieses das Zusammengesetzte?
Mir wenigstens scheint es so.
So gehen wir denn, sprach er, zu dem, wovon wir auch vorher sprachen! Jenes
Wesen selbst, welchem wir das eigentliche Sein zuschreiben in unsern Fragen
und Antworten, verhält sich dies wohl immer auf gleiche Weise, oder bald so,
bald anders? Das Gleiche selbst, das Schöne selbst, und so jegliches, was nur
ist, selbst, nimmt das wohl jemals auch nur irgend eine Veränderung an? Oder
verhält sich nicht jedes dergleichen als ein einartiges Sein an und für sich
immer auf gleiche Weise und nimmt niemals auf keine Weise irgendwie eine Veränderung
an?
Auf gleiche Weise, sprach Kebes, und einerlei verhält es sich notwendig,
o Sokrates. Wie aber das viele Schöne, wie Menschen, Pferde, Kleider oder sonst
irgend etwas dergleichen Schönes oder Gleiches oder sonst einem von jenem Gleichnamiges,
- verhalten sich auch diese immer gleich, oder ganz jenem entgegengesetzt, weder
mit sich selbst jedes noch untereinander jemals, um es kurz zu sagen, auch nur
im mindesten gleich?
Wiederum so, sprach Kebes, scheint mir dieses niemals einerlei sich zu verhalten.
Und diese Dinge, sprach er, kannst du doch anrühren, sehen und mit den andern
Sinnen wahrnehmen; aber zu jenen sich Gleichseienden kannst du doch wohl auf
keine Weise irgend anders gelangen, als durch das Denken der Seele selbst; sondern
unsichtbar sind diese Dinge und werden nicht gesehen?
Auf alle Weise, sagte er, hast du recht.
Sollen wir also, sprach er, zwei Arten der Dinge setzen: sichtbar die eine
und die andere unsichtbar?
Das wollen wir, sprach er.
Und die unsichtbare als immer auf gleiche Weise sich verhaltend, die sichtbare
aber niemals gleich?
Auch das, sagte er, wollen wir setzen.
Wohlan denn, sprach er, ist nicht von uns selbst das eine Leib und das andere
Seele?
Allerdings.
Welcher von jenen beiden Arten nun wollen wir wohl sagen, daß der Leib ähnlicher
sei und verwandter?
Das muß ja jedem deutlich sein: dem Sichtbaren.
Wie aber die Seele, ist die unsichtbar oder sichtbar?
Menschen wenigstens ist sie es nicht, o Sokrates, sagte er.
Aber wir sprachen doch von dem Sichtbaren und Unsichtbaren für die Natur
der Menschen, oder meinst du für irgend eine andere?
Für die menschliche.
Was sagen wir also von der Seele, daß sie sichtbar sei oder nicht sichtbar?
Nicht sichtbar.
Also unsichtbar?
Ja.
Ähnlicher also als der Leib ist die Seele dem Unsichtbaren, er aber dem Sichtbaren.
Ganz notwendig, o Sokrates.
Und nicht wahr, auch das haben wir schon lange gesagt, daß die Seele, wenn
sie sich des Leibes bedient, um etwas zu betrachten, es sei durch das Gesicht
oder das Gehör oder irgend einen andern Sinn - denn das heißt vermittelst des
Leibes, wenn man vermittelst eines Sinnes etwas betrachtet -, dann von dem Leibe
gezogen wird zu dem, was sich niemals auf gleiche Weise verhält, und daß sie
dann selbst schwankt und irrt und wie trunken taumelt, weil sie ja eben solches
berührt?
Das haben wir gesagt.
Wenn sie aber durch sich selbst betrachtet, dann geht sie zu dem reinen,
immer seienden Unsterblichen und sich stets Gleichen, und als diesem verwandt
hält sie sich stets zu ihm, wenn sie für sich selbst ist und es ihr vergönnt
wird, und dann hat sie Ruhe von ihrem Irren und ist auch in Beziehung auf jenes
immer sich selbst gleich, weil sie eben solches berührt, und diesen ihren Zustand
nennt man eben die Vernünftigkeit?
Auf alle Weise, o Sokrates, sagte er, ist dies schön und wahr gesagt.
Welcher von beiden Arten also dünkt dich die Seele nach dem Vorherigen und
dem Jetzt gesagten ähnlicher und verwandter zu sein?
Jeder, sagte er, dünkt mich, o Sokrates, müßte nach dieser Darstellungsweise
zugeben, auch der Ungelehrigste, daß doch in allem und jedem die Seele dem sich
immer Gleichbleibenden ähnlicher ist als dem, was nicht so ist.
Und wie der Leib?
Dem anderen.
Betrachte es auch von dieser Seite, daß, solange Leib und Seele zusammen
sind, die Natur ihm gebietet, zu dienen und sich beherrschen zu lassen, ihr
aber, zu herrschen und zu regieren: auch hiernach nun, welches von beiden dünkt
dich dem Göttlichen ähnlich zu sein und welches dem Sterblichen? Oder dünkt
dich nicht das Göttliche so geartet zu sein, daß es herrscht und regiert, das
Sterbliche aber, daß es sich beherrschen läßt und dient?
Das dünkt mich.
Welchem gleicht nun die Seele?
Offenbar, o Sokrates, die Seele dem Göttlichen und der Leib dem Sterblichen.
Sieh nun zu, sprach er, o Kebes, ob aus allem Gesagten uns dieses hervorgeht,
daß dem Göttlichen, Unsterblichen, Vernünftigen, Eingestaltigen, Unauflöslichen
und immer einerlei und sich selbst gleich sich Verhaltenden am ähnlichsten ist
die Seele, dem Menschlichen und Sterblichen und Unvernünftigen und Vielgestaltigen
und Auflöslichen und nie einerlei und sich selbst Gleichbleibenden wiederum
der Leib am ähnlichsten ist? Oder wissen wir hiergegen noch etwas anderes zu
sagen, lieber Kebes, daß es sich nicht so verhalte?
Wir wissen nichts dergleichen.
Wie nun? Wenn sich dieses so verhält, kommt nicht dem Leibe wohl zu, leicht
aufgelöst zu werden, der Seele hingegen, ganz und gar unauflöslich zu sein oder
wenigstens beinahe so?
Wie sollte es nicht?
Und du bemerkst doch, sprach er, daß, wenn der Mensch stirbt, auch seinem
Sichtbaren, dem Leibe, der noch im Sichtbaren daliegt, den wir Leichnam nennen,
und dem es zukommt, aufgelöst zu werden und zu zerfallen und verweht zu werden,
nicht gleich etwas hiervon widerfährt, sondern daß er noch eine ganz geraume
Zeit so bleibt, und wenn einer bei günstiger Leibesbeschaffenheit stirbt und
zu eben solcher Zeit, dann gar lange. Und wenn der Leib zusammengefallen ist
und getrocknet, wie sie in Ägypten aufgetrocknet werden, so hält er sich fast
undenkliche Zeit. Ja, einige Teile des Leibes, wie Knochen, Sehnen und alle
dergleichen, sind, wenn er auch schon verfault ist, sozusagen doch fast unsterblich.
Oder nicht?
Ja.
Und die Seele also, das Unsichtbare und sich an einen andern eben solchen
Ort Begehende, der edel und rein und unsichtbar ist, nämlich in die wahre Geisterwelt
zu dem guten und weisen Gott, wohin, wenn Gott will, alsbald auch meine Seele
zu gehen hat, - diese, die so beschaffen und geartet ist, sollte, wenn sie von
dem Leibe getrennt ist, sogleich verweht und untergegangen sein, wie die meisten
Menschen sagen? Daran fehlt wohl viel, ihr lieben Kebes und Simmias! Sondern
vielmehr verhält es sich so, wenn sie sich rein losmacht und nichts von dem
Leibe mit sich zieht, weil sie mit gutem Willen nichts mit ihm gemein hatte
im Leben, sondern ihn floh und in sich selbst gesammelt blieb und dies immer
im Sinn hatte, was nichts anders heißen will, als daß sie recht philosophierte
und darauf dachte, leicht zu sterben; oder hieß dies nicht auf den Tod bedacht
sein?
Allerdings ja.
Also welche sich so verhält, die geht zu dem ihr Ähnlichen, dem Unsichtbaren,
und zu dem Göttlichen, Unsterblichen, Vernünftigen, wohin gelangt ihr dann zuteil
wird glückselig zu sein, von Irrtum und Unwissenheit, Furcht und wilder Liebe
und allen andern menschlichen Übeln befreit, indem sie, wie es bei den Eingeweihten
heißt, wahrhaft die übrige Zeit mit Göttern lebt. Wollen wir so sagen, o Kebes,
oder anders?
So, beim Zeus, sprach Kebes.
Wenn sie aber, meine ich, befleckt und unrein von dem Leibe scheidet, weil
sie eben immer mit dem Leibe verkehrt und ihn gepflegt und geliebt hat und von
ihm bezaubert gewesen ist und von den Lüsten und Begierden, so daß sie auch
glaubte, es sei überhaupt gar nichts anderes wahr als das Körperliche, was man
betastet und sieht, ißt und trinkt und zur Liebe gebraucht, und weil sie das
für die Augen Dunkle und Unsichtbare, der Vernunft hingegen Faßliche und mit
Wahrheitsliebe zu Ergreifende gewohnt gewesen ist zu hassen und zu scheuen und
zu fürchten, - meinst du, daß eine so beschaffene Seele sich werde rein für
sich absondern können?
Wohl nicht im mindesten, sprach er.
Sondern durchzogen von dem Körperlichen, womit sie durch den Umgang und Verkehr
mit dem Leibe, wegen des ununterbrochenen Zusammenseins und der vielen Sorge
um ihn, gleichsam zusammengewachsen ist?
Freilich.
Und dies, o Freund, muß man doch glauben, sei unbeholfen und schwerfällig,
irdisch und sichtbar, so daß auch die Seele, die es an sich hat, schwerfällig
ist und wieder zurückgezogen wird in die sichtbare Gegend aus Furcht vor dem
Unsichtbaren und der Geisterwelt, wie man sagt, an den Denkmälern und Gräbern
umherschleichend, an denen, daher auch allerlei dunkle Erscheinungen von Seelen
gesehen worden sind, wie denn solche Seelen wohl Schattenbilder darstellen müssen,
welche nicht rein abgelöst sind, sondern noch teil haben an dem Sichtbaren,
weshalb sie denn auch gesehen werden.
Das leuchtet wohl ein, o Sokrates.
Und freilich leuchtet auch ein, o Kebes, daß dies nicht die Seelen der Guten
sind, sondern die der Schlechten, welche um dergleichen gezwungen sind herumzuirren,
Strafe leidend für ihre frühere Lebensweise, welche schlecht war. Und so lange
irren sie, bis sie durch die Begierde des sie noch begleitenden Körperlichen
wieder gebunden werden in einen Leib. Und natürlich werden sie in einen von
solchen Sitten gebunden, deren sie sich befleißigt hatten im Leben.
Was meinst du für welche, o Sokrates?
Z.B. die sich ohne alle Scheu der Völlerei und des Übermuts und Trunkes befleißigten,
solche begeben sich wohl natürlich in Esel und ähnliche Arten von Tieren. Oder
meinst du nicht?
Das ist ganz wahrscheinlich.
Die aber Ungerechtigkeit, Herrschsucht und Raub vorzogen, diese dagegen in
die verschiedenen Geschlechter der Wölfe, Habichte und Geier? Oder wohin anders
sollen wir sagen, daß solche gehen?
Ohne weiteres, sprach Kebes, in dergleichen.
Und gewiß so doch auch mit den übrigen, daß jegliche der Ähnlichkeit mit
ihren Bestrebungen nachgeht?
Gewiß, wie sollte sie nicht?
Also, sprach er, sind auch wohl die glücklichsten unter diesen und kommen
an den besten Ort diejenigen, welche der gemeinen und bürgerlichen Tugend nachgestrebt
haben, die man doch auch Besonnenheit und Gerechtigkeit nennt, die aber nur
aus Gewöhnung und Übung entsteht ohne Philosophie und Vernunft?
Inwiefern sind diese die Glückseligsten?
Weil doch natürlich ist, daß diese wiederum in eine solche gesellige und
zahme Gattung gehen, etwa in Bienen oder Wespen oder Ameisen, oder auch wieder
in diese menschliche Gattung, und wieder ganz leidliche Männer aus ihnen werden.
Das ist natürlich.
In der Götter Geschlecht ist wohl keinem, der nicht philosophiert hat und
vollkommen rein abgeschieden ist, vergönnt zu gelangen, sondern nur dem Lernbegierigen.
Eben deshalb nun, o lieber Simmias und Kebes, enthalten sich die wahrhaften
Philosophen aller von dem Leibe herrührenden Begierden und harren aus und geben
sich ihnen nicht hin; - nicht etwa, weil sie Verderb des Hauswesens und Armut
fürchten wie die meisten Geldsüchtigen, auch nicht, weil sie die Ehrlosigkeit
und Schmach der Trägheit scheuen wie die Herrschsüchtigen und Ehrsüchtigen,
enthalten sie sich ihrer.
Das würde sich auch für sie nicht ziemen, o Sokrates, sprach Kebes.
Freilich nicht, beim Zeus, sagte er. Darum sagen auch allen solchen, o Kebes,
jene alle, die irgend für ihre Seele Sorge tragen und nicht für der Leiber Bildung
und Bedienung leben, Fahrewohl und gehen nicht gleichen Schritt mit ihnen, die
ja nicht wissen, wohin sie gehen. Sie selbst aber, feststellend, daß sie nichts
tun dürfen, was der Philosophie zuwider wäre und der Erlösung und Reinigung
durch sie, wenden sich dorthin, jener folgend, wie sie führt.
Wie das, o Sokrates?
Das will ich dir sagen, sprach er. Es erkennen nämlich die Lernbegierigen,
daß die Philosophie, indem sie ihre Seele findet, ordentlich gebunden im Leibe
und ihm anklebend, und gezwungen, wie durch ein Gitter durch ihn das Sein zu
betrachten, nicht aber für sich allein, und daher in aller Torheit sich umherwälzend,
und indem sie die Gewalt dieses Kerkers erkennt, wie er ordentlich eine Lust
ist, so daß der Gebundene selbst am meisten immer mit angreife, um gebunden
zu werden; wie ich nun sage, die Lernbegierigen erkennen, daß, indem die Philosophie
in solcher Beschaffenheit ihre Seele annimmt, sie ihr gelinde zuspricht und
versucht, sie zu erlösen, indem sie zeigt, daß alle Betrachtung durch die Augen
voll Betrug ist, voll Betrug auch die durch die Ohren und die übrigen Sinne,
und deshalb sie überredet, sich von diesen zurückzuziehen, soweit es nicht notwendig
ist, sich ihrer zu bedienen, und sie ermuntert, sich vielmehr in sich selbst
zu sammeln und zusammenzuhalten und nichts anderem zu glauben als wiederum sich
selbst, was sie für sich selbst von den Dingen an und für sich anschaut; was
sie aber vermittelst eines anderen betrachtet, dieses, weil es in jeglichem
anderen wieder ein anderes wird, für nichts Wahres zu halten, und solches sei
ja eben das Wahrnehmbare und Sichtbare; was sie aber selbst sieht, sei das Gedenkbare
und Unsichtbare.
Dieser Befreiung nun glaubt nicht widerstreben zu dürfen des
wahrhaften Philosophen Seele und enthält sich deshalb der Lust und Begierde,
der Unlust und Furcht, soviel sie kann, indem sie bedenkt, daß, wenn jemand
sehr heftig sich freut oder fürchtet, trauert oder begehrt, er nie ein so großes
Übel hiervon erleidet, als er wohl glaubt, wenn er z.B. etwa erkrankt ist oder
einen Verlust erlitten hat seiner Begierden wegen, was aber das größte und äußerste
aller Übel ist, dieses wirklich erleidet und es nicht in Rechnung bringt.
Welches ist doch dieses, o Sokrates? sprach Kebes.
Daß nämlich jedes Menschen Seele, sobald sie über irgend etwas sich heftig
erfreut oder betrübt, auch genötigt ist, von demjenigen, womit ihr dieses begegnet,
zu glauben, es sei das Wirksamste und das Wahrste, da sich dies doch nicht so
verhält. Und dies sind doch am meisten die sichtbaren Dinge, oder nicht?
Freilich.
In diesem Zustande also wird am meisten die Seele von dem Leibe gebunden?
Wieso?
Weil jegliche Lust und Unlust gleichsam einen Nagel hat und sie an den Leib
annagelt und anheftet und sie leibartig macht, wenn sie doch glaubt, daß das
wahr sei, was auch der Leib dafür aussagt. Denn dadurch, daß sie gleiche Meinung
hat mit dem Leibe und sich an dem nämlichen erfreut, wird sie, denke ich, genötigt,
auch gleicher Sitte und gleicher Nahrung wie er teilhaftig zu werden, so daß
sie nimmermehr rein in die Unterwelt kommen kann, sondern immer des Leibes voll
von hinnen geht; daher sie auch bald wiederum in einen andern Leib fällt und
wie hingesäet sich einwurzelt und daher unteilhaftig bleibt des Umganges mit
dem Göttlichen und Reinen und Eingestaltigen.
Vollkommen wahr ist, was du sagst, o Sokrates, sprach Kebes.
Dieser Ursachen wegen also, o Kebes, sind die wahrhaft Lernbegierigen sittsam
und tapfer, und nicht weshalb die Leute sagen. Oder meinst du?
Nein, ich gewiß nicht.
Es geht auch nicht anders, als daß die Seele eines philosophischen Mannes
so rechnet und nicht glauben kann, sie müsse sich zwar von der Philosophie erlösen
lassen, nachdem diese sie aber erlöset, sich selbst wiederum der Lust und Unlust
hingeben, um sich wieder festbinden und die vorige Arbeit vergeblich machen
zu lassen, als wolle sie das Gegenstück treiben zu der Penelope Weberei; sondern
Ruhe von dem allem sich verschaffend, der Vernunft folgend und immer darin verharrend,
daß sie das Wahre und Göttliche und der Meinung nicht Unterworfene anschaut
und sich davon nährt, glaubt sie, solange sie lebt, so leben zu müssen, nach
dem Tode aber zu dem Verwandten und zu ebensolchem zu gelangen und dann von
allen menschlichen Übeln erlöst zu werden. Hat sie sich so genährt, so ist wohl
kein Wunder, wenn sie nicht fürchtet, ob sie nicht doch nach solchen Bestrebungen
bei der Trennung von dem Leibe zerrissen, von ich weiß nicht welchen Winden
verweht und zerstäubt umkommen und nirgend mehr sein werde.
Eine Stille entstand nun, nachdem Sokrates dieses gesagt, auf lange Zeit,
und er selbst, Sokrates, war ganz in das Vorgetragene vertieft, wie man ihm
ansehn konnte, und auch die meisten von uns. Kebes und Simmias aber sprachen
ein weniges miteinander.
Da sah sie Sokrates an und fragte: Wie? Euch dünkt doch nicht etwa das Gesagte
noch mangelhaft gesagt zu sein? Denn es gibt wohl noch viel Bedenken und Einwendungen
dabei, wenn einer es ganz genau durchnehmen will. Hattet ihr nun etwas anderes
untereinander, so will ich nichts gesagt haben; wenn ihr aber noch hierüber
zweifeltet, so tragt nur ja kein Bedenken, es entweder allein zu sagen und anzuführen,
wenn ihr glaubt, daß es so besser werde vorgetragen werden, oder auch mich mit
dazu zu nehmen, wenn ihr meinet, mit mir besser zu fahren!
Da sagte Simmias: Ich will dir die Wahrheit sagen, Sokrates. Wir beide haben
schon lange zweifelnd einander angestoßen und aufgemuntert, zu fragen, weil
wir zwar gern hören möchten, aber doch Bedenken tragen, dir Unruhe zu machen,
daß es dir nicht etwa zuwider wäre bei dem jetzigen Unglück.
Als er dies hörte, sagte er mit sanftem Lächeln: O weh, Simmias! Wahrlich,
gar schwer werde ich die übrigen Menschen überzeugen, daß ich das jetzige Geschick
für kein Unglück halte, da ich nicht einmal euch überzeugen kann, sondern ihr
fürchtet, ich möchte jetzt unbequemer sein als sonst im Leben.
Und wie es scheint,
haltet ihr mich in der Wahrsagung für schlechter als die Schwäne, welche, wenn
sie merken, daß sie sterben sollen, wie sie schon sonst immer gesungen haben,
dann am meisten und vorzüglich singen, weil sie sich freuen, daß sie zu dem
Gotte gehen sollen, dessen Diener sie sind.
Die Menschen aber, wegen ihrer eigenen
Furcht vor dem Tode, lügen auch auf die Schwäne und sagen, daß sie, über den
Tod jammernd, aus Traurigkeit sängen, ohne zu bedenken, daß kein Vogel singt,
wenn ihn hungert oder friert oder ihm sonst irgend etwas fehlt, auch nicht einmal
die Nachtigall selbst oder die Schwalbe und der Wiedehopf, von denen sie sagen,
daß sie aus Unlust klagend singen; aber weder diese, glaube ich, singen aus
Traurigkeit noch die Schwäne; sondern weil sie, meine ich, dem Apollon angehören,
sind sie wahrsagerisch; und da sie das Gute in der Unterwelt voraus erkennen,
so singen sie und sind fröhlich an jenem Tage vorzugsweise und mehr als sonst
vorher. Ich halte aber auch mich dafür, ein Dienerschaftsgenoß der Schwäne zu
sein und demselben Gotte heilig und nicht schlechter als sie das Wahrsagen zu
haben von meinem Gebieter, also auch nicht unmutiger als sie aus dem Leben zu
scheiden. Also deshalb mögt ihr immer sagen und fragen, was ihr wollt, solange
die elf Männer der Athener es gestatten.
Sehr schön, sagte Simmias; also will ich dir sagen, was für Zweifel ich habe,
und dann auch dieser, wiefern er das Gesagte nicht annimmt. Denn ich denke über
diese Dinge, o Sokrates, ungefähr wie du: daß etwas Sicheres davon zu wissen
in diesem Leben entweder unmöglich ist oder doch gar schwer; daß aber, was darüber
gesagt wird, nicht auf alle Weise zu prüfen, ohne eher abzulassen, bis einer
ganz ermüdet wäre vom Untersuchen nach allen Seiten, einen gar weichlichen Menschen
verrät. Denn eines muß man doch in diesen Dingen erreichen: entweder lernen
oder erfinden, wie es damit steht oder, wenn dies unmöglich ist, die beste und
unwiderleglichste der menschlichen Meinungen darüber nehmen und darauf wie auf
einem Brette versuchen, durch das Leben zu schwimmen, wenn einer nicht sicherer
und gefahrloser auf einem festeren Fahrzeuge oder einer göttlichen Rede reisen
kann. So will denn auch ich jetzt mich nicht schämen, zu fragen, da ja auch
du dasselbe sagst, und nicht hernach mir selbst Vorwürfe zu machen haben, daß
ich jetzt nicht gesagt habe, was ich denke. Mir nämlich, o Sokrates, sowohl
wenn ich bei mir selbst als wenn ich mit diesem das Gesamte betrachte, erscheint
es gar nicht gründlich genug.
Darauf sagte Sokrates: Vielleicht, o Freund, erscheint es dir ganz recht;
aber sage nur, wiefern nicht gründlich?
Insofern, sprach er, als auch von der Harmonie und der Leier und den Saiten
einer ganz auf dieselbe Weise reden könnte, daß nämlich die Harmonie etwas Unsichtbares
und Unkörperliches und gar Schönes und Göttliches ist an der gestimmten Leier,
die Leier selbst aber und die Saiten Körper sind und Körperliches und zusammengesetzt
und irdisch und dem Sterblichen verwandt. Wenn nun einer die Leier zerbräche
oder die Saiten zerschnitte oder zerrisse, so könnte einer mit derselben Rede
wie du fest behaupten, jene Harmonie müsse notwendig noch dasein und nicht untergegangen.
Denn es wäre doch keine Möglichkeit, daß die Leier noch dasein sollte, nachdem
die Saiten zerrissen wären, und die Saiten selbst, die doch dem Sterblichen
ähnlich sind, die Harmonie aber sollte untergegangen sein, die doch dem Göttlichen
und Unsterblichen gleichartig und verwandt ist, und zwar noch vor dem Sterblichen;
sondern, würde er sagen, notwendig muß die Harmonie noch irgendwo sein, und
eher werden die Hölzer verfaulen und die Saiten, als jener etwas begegnen wird.
Nun aber glaube ich, o Sokrates, du selbst wirst auch dies schon erwogen haben,
daß wir uns die Seele als so etwas vorzüglich vorstellen, wenn doch unser Leib
eingespannt ist und zusammengehalten von Warmem und Kaltem, Trockenem und Feuchtem
und dergleichen Dingen, daß unsere Seele die Mischung und Harmonie eben dieser
Dinge sei, wenn sie schön und im rechten Verhältnis gegeneinander gemischt sind.
Ist nun die Seele eine Harmonie, so ist offenbar, daß, wenn unser Leib unverhältnismäßig
erschlafft oder angespannt wird von Krankheiten und anderen Übeln, die Seele
dann notwendig sogleich umkommt, obgleich sie das Göttlichste ist, eben wie
alle andern Harmonien in Tönen und in allen Werken der Künstler, die Überreste
eines jeden Leibes aber noch lange Zeit bleiben, bis sie verbrannt werden oder
verwesen. Sieh nun zu, was wir gegen diese Rede sagen wollen, wenn jemand behauptet,
daß die Seele als die Mischung alles zum Leibe Gehörigen in dem, was wir Tod
nennen, zuerst untergehe!
Da sah sich Sokrates um, wie er oftmals tat, und sagte lächelnd: Simmias
hat ganz recht gesprochen. Wenn nun einer besseren Rat weiß als ich, warum antwortet
er nicht? Denn er hat die Sache gewiß gar nicht schlecht angegriffen. Doch mich
dünkt, ehe wir antworten, müssen wir erst auch den Kebes hören, was der wieder
unserer Rede schuld gibt, damit wir Zeit gewinnen und uns beraten können, was
wir sagen wollen, und dann, wenn wir sie angehört haben, ihnen entweder einräumen,
wenn sie etwas Ordentliches scheinen angestimmt zu haben, oder wenn nicht, dann
schon unsere Rede verfechten. Also, sagte er, sprich, o Kebes, was denn dich
beunruhigt hat, daß du nicht glauben kannst?
Ich will es also sagen, sprach Kebes. Mir scheint nämlich unsere Rede noch
immer auf demselben Fleck zu sein und an demselben Mangel, dessen wir schon
vorher erwähnten, auch jetzt noch zu leiden.
Denn daß unsere Seele schon war,
ehe sie in diese Gestalt kam, - das will ich nicht zurücknehmen, daß dies nicht
sehr artig und, wenn es nicht anmaßend ist zu sagen, ganz befriedigend bewiesen
wäre; daß sie aber auch noch, wenn wir tot sind, irgendwo sei, dies scheint
mir nicht ebenso.
Daß freilich die Seele nicht stärker und dauerhafter sein
sollte als der Leib, dies gebe ich der Einwendung des Simmias nicht nach: denn
in diesem allen scheint sie mir sich gar weit zu unterscheiden. »Warum also«,
könnte die Rede wohl sagen, »bist du noch ungläubig, wenn du doch siehst, daß
nach des Menschen Tode das Schwächere noch ist? Dünkt dich dann nicht, daß das
Dauerhaftere sich gewiß noch erhalten müsse in eben dieser Zeit?« Dagegen nun
überlege, ob ich hiermit etwas sage: Denn eines Bildes bedarf ich freilich auch,
wie es scheint, ebensogut als Simmias. Mich dünkt nämlich dies gerade ebenso
gesagt, wie wenn jemand von einem alten Weber, der gestorben wäre, diese Rede
führen wollte: »Der Mensch ist nicht umgekommen, sondern ist gewiß noch irgendwo«,
und zum Beweise dafür wollte er das Kleid anführen, was er anhatte und selbst
gewebt hatte, daß das doch noch wohlbehalten wäre und nicht umgekommen: und
wenn ihm einer nicht glauben wollte, er diesen dann fragte, was wohl seiner
Natur nach dauerhafter wäre, ein Mensch oder ein Kleid, wenn es nämlich im Gebrauch
wäre und getragen würde, und wenn der dann antworten müßte: »der Mensch bei
weitem«, jener dann glaubte bewiesen zu haben, der Mensch also müsse wohl ganz
gewiß wohlbehalten sein, da ja das Vergänglichere nicht untergegangen wäre.
Ich denke aber, o Simmias, das verhält sich nicht so. Sieh aber auch du zu,
was ich meine! Denn jeder würde wohl der Meinung sein, daß das einfältig gesagt
wäre, wenn es jemand sagen sollte. Denn dieser Weber hat schon gar viele solche
Kleider verbraucht und gewebt und ist zwar später umgekommen als jene vielen,
aber doch eher als das letzte, denke ich; und deshalb ist doch wohl ein Mensch
immer nicht schlechter oder vergänglicher als ein Kleid. Und dieses selbige
Bild, meine ich, läßt sich anwenden auf Seele und Leib; und wer eben dasselbe
sagte von diesen, würde nur scheinen verständig zu reden, daß nämlich die Seele
zwar dauerhafter ist und der Leib schwächer und vergänglicher; doch aber, würde
er hinzusetzen, verbrauche ja jede Seele viele Leiber, zumal wenn sie viele
Jahre lebe. Denn wenn der Leib immer im Fluß ist und vergeht, solange der Mensch
lebt, die Seele aber das Verbrauchte immer wieder webt, so muß ja die Seele
wohl, wenn sie umkommt, diese ihre letzte Bekleidung noch haben und eher freilich
nur als diese einzige umkommen; und erst wenn die Seele umgekommen ist, kann
dann der Leib die Natur seiner Schwachheit beweisen, indem er schnell durch
Fäulnis vergeht. So daß man also diesem Satz noch nicht zuverlässig trauen darf,
daß, wenn wir tot sind, unsere Seele noch irgendwo ist. Denn wenn jemand auch
dem, der deine Behauptung vorträgt, noch mehr einräumen wollte und zugeben,
unsere Seele sei nicht nur in der Zeit vor unserer Geburt gewesen, sondern es
hindere auch nichts, daß nicht auch nach dem Tode die Seelen einiger noch wären
und sein würden und noch oft würden geboren werden und wieder sterben - denn
so stark sei sie von Natur, daß sie dieses gar vielmal aushaken könne -; nur
aber, indem er dieses zugäbe, nicht auch noch jenes einräumte, daß sie in diesen
vielen Geburten gar nicht von Kräften komme und auch am Ende nicht in einem
von diesen Toden gänzlich untergehe, sondern sagte: Diesen Tod aber und diese
Auflösung des Leibes, welche der Seele den Untergang bringt, wisse nur keiner,
denn es sei unmöglich, daß irgend einer von uns ihn fühle; wenn sich nun dieses
so verhält, so kann doch von keinem, der über den Tod guten Mutes ist, gesagt
werden, daß er nicht auf eine unverständige Weise mutig sei, wenn er nicht zu
beweisen vermag, daß die Seele ganz und gar unsterblich und unvergänglich ist;
wo nicht, so muß jeder, der im Begriff ist zu sterben, für seine eigene Seele
in Sorgen sein, ob sie nicht gerade in dieser Trennung von dem Leibe ganz und
gar untergehn werde.
Alle nun, als wir sie beide dieses hatten sagen hören, waren wir, wie wir
uns hernach gestanden, auf unangenehme Weise verstimmt, weil sie uns, die wir
durch die vorigen Reden stark überzeugt waren, wieder unruhig zu machen und
in Ungewißheit zurückzuwerfen schienen, nicht nur über das bereits Gesagte,
sondern auch wegen dessen, was nun noch würde gesagt werden, ob nicht wir ganz
untaugliche Richter wären oder ob auch die Sache selbst gar nicht zu entscheiden
sei.
Echekrates: Bei den Göttern, o Phaidon, ich verzeihe euch das. Denn auch
ich, da ich dies jetzt von dir gehört, habe so zu mir gesprochen: Welcher Rede
soll man nun wohl noch glauben? Denn die so sehr glaubliche, welche Sokrates
vorgetragen, ist nun doch um allen Glauben gekommen. Denn gar wunderbar ergreift
mich dieser Satz schon jetzt und immer, daß unsere Seele eine Art Harmonie ist;
und wie er jetzt ausgesagt worden, hat er mir in Erinnerung gebracht, daß auch
mir das vorher schon so vorgekommen war. Und so bedarf ich nun wieder wie anfangs
einer andern Rede, um mich zu überzeugen, daß mit dem Sterbenden die Seele nicht
mitstirbt. Sage nun, beim Zeus, wie Sokrates dieses verfolgt hat, und ob auch
ihm, wie du von euch sagst, etwas Verdrießliches anzumerken war oder nicht,
sondern ob er seinen Satz ruhig verteidigte, und ob er es befriedigend getan
hat oder unzureichend? Dies alles berichte uns so genau als möglich!
Phaidon: Gewiß, o Echekrates, wie oft ich auch schon den Sokrates bewundert
hatte, nie doch war ich mehr von ihm eingenommen als damals. Denn daß er etwas
zu erwidern wußte, ist wohl nichts Besonderes; aber ich bewunderte ihn zuerst
vorzüglich deswegen, wie freundlich und sanft und beifällig er die Reden der
jungen Männer aufnahm, dann, wie scharf er bemerkte, was sie auf uns gewirkt
hatten, und wie gut er uns heilte und gleichsam wie Flüchtlinge und Geschlagene
zurückrief und uns zusprach, ihm zu folgen und die Rede mit ihm zu erwägen.
Echekrates: Wie also?
Phaidon: Das will ich dir sagen.
Ich saß nämlich zu seiner Rechten neben dem Bett auf einem Bänkchen, er aber
saß weit höher als ich. Nun strich er mir über den Kopf, faßte die Haare im
Nacken zusammen, denn er pflegte wohl oft in meinen Haaren zu spielen, und sagte:
Morgen also, o Phaidon, wirst du wohl diese schönen Locken abscheren?
So sieht es wohl aus, o Sokrates, sprach ich.
Nicht doch, wenn du mir folgst.
Was denn? fragte ich.
Heute noch, sagte er, wollen wir -
ich meine und du diese - abscheren, wenn uns
nämlich die Rede stirbt und wir sie nicht wieder ins Leben rufen können. Und
wenn ich du wäre und mir diese Rede abhanden käme, wollte ich, wie die Argeier,
einen Eid darauf ablegen, nicht eher das Haar wachsen zu lassen, bis ich in
ehrlichem Kampfe die Rede des Simmias und Kebes besiegt hätte.
Aber, sagte ich, mit zweien kann es ja auch Herakles nicht aufnehmen.
So rufe denn mich herbei, sprach er, als deinen Iolaos, solange es noch Tag
ist!
Das tue ich denn, sagte ich, aber nicht als Herakles, sondern wie Iolaos
den Herakles.
Das ist gleichviel, sagte er. Aber daß wir uns ja zuerst hüten, daß uns nicht
etwas Gewisses begegne!
Was doch? fragte ich.
Daß wir ja nicht Redefeinde werden, sprach er, wie andere wohl Menschenfeinde!
Denn unmöglich, sagte er, kann einem etwas Ärgeres begegnen, als wenn er Reden
haßt. Und die Redefeindschaft entsteht ganz auf dieselbe Weise wie die Menschenfeindschaft:
Nämlich die Menschenfeindschaft entsteht, wenn man einem auf kunstlose Weise
zu sehr vertraut und einen Menschen für durchaus wahr, gesund und zuverlässig
gehalten hat, bald darauf aber ihn als schlecht und unzuverlässig erfindet und
dann wieder einen, - und wenn einem das öfter begegnet und bei solchen, die
man für die vertrautesten und besten Freunde hält, so haßt man denn endlich,
wenn man immer wieder Unglück hat, alle und glaubt, daß an keinem überhaupt
irgend etwas Gesundes ist. Oder hast du nicht bemerkt, daß das so zu gehen pflegt?
Jawohl, sagte ich.
Ist das nun nicht, sprach er, schändlich, und ist nicht offenbar, daß ein
solcher sich ohne die Kunst, die sich auf Menschen versteht, an den Umgang mit
den Menschen wagt? Denn wenn er dieser Kunst gemäß mit ihnen umginge, so würde
er, wie es sich in der Tat verhält, so auch glauben, daß es der sehr guten und
sehr schlechten beider immer nur wenige gibt, der mittelmäßigen aber am meisten.
Wie meinst du das? sprach ich.
Geradeso, sagte er, wie mit dem sehr Großen und sehr Kleinen: glaubst du,
daß es etwas Selteneres gibt, als einen ganz ausgezeichnet großen oder ausgezeichnet
kleinen Menschen oder Hund oder sonst etwas zu finden? Und ebenso mit schnell
und langsam, häßlich und schön, weiß und schwarz? Oder hast du nicht gemerkt,
daß von alledem das Äußerste selten vorkommt und wenig, das Mittlere aber unendlich
häufig?
Freilich, sprach ich.
Und meinst du nicht, sagte er, wenn ein Wettstreit der Schlechtigkeit angestellt
würde, daß auch da nur sehr wenige sich als die ersten zeigen würden?
Natürlich, sagte ich.
Freilich natürlich, sprach er; aber darin sind eigentlich die Reden - nicht
den Menschen ähnlich - sondern nur weil du führtest, bin ich dir hierher gefolgt
-, wohl aber darin, daß, wenn jemand einer Rede getraut hat, daß sie wahr sei,
ohne die Kunst, welche sich auf Reden versteht, und wenn sie ihm dann bald darauf
wieder falsch vorkommt, manchmal mit Recht, manchmal mit Unrecht, und so wieder
eine und eine andere, und vorzüglich gilt das, wie du wohl weißt, von denen,
die sich mit Streitreden abgeben, - daß sie am Ende glauben, ganz weise geworden
und allein zu der Einsicht gelangt zu sein, daß nicht nur an keinem Dinge irgend
etwas Gesundes und Richtiges ist, sondern auch an den Reden nicht, daß vielmehr
alles sich ordentlich wie im Euripos von oben nach unten dreht und keine Zeitlang
bei etwas bleibt.
Vollkommen richtig, sprach ich, redest du.
Und, o Phaidon, wäre das nun nicht ein Jammer, wenn es doch wirklich wahre
und sichere Reden gäbe und die man auch einsehen könnte, wenn einer, weil er
auf solche Reden stößt, die ihm bald wahr zu sein scheinen, bald wieder nicht,
sich selbst nicht die Schuld geben Wollte und seiner Kunstlosigkeit, sondern
am Ende aus Mißmut die Schuld gern von sich selbst auf die Reden hinwälzte und
dann sein übriges Leben in Haß und Schmähungen gegen alle Reden hinbrächte und
so der Wahrheit und Erkenntnis der Dinge verlustig ginge?
Beim Zeus, sagte ich, ein großer Jammer.
So laß uns denn, sprach er, zuerst davor uns hüten und dem in unserer Seele
keinen Eingang verstatten, als ob an allen Reden am Ende wohl gar nichts Tüchtiges
wäre; sondern vielmehr bedenken, daß wir nur noch nicht recht tüchtig sind,
aber tapfer sein und trachten müssen, tüchtig zu werden, du und die übrigen
des ganzen künftigen Lebens wegen, ich aber eben des Todes wegen. So daß ich
vielleicht gar jetzt nicht sonderlich philosophisch mich in dieser Sache verhalte,
sondern wie die ganz Ungebildeten rechthaberisch. Denn auch diese, wenn sie
über etwas streiten, kümmern sich nicht darum, wie sich das wohl eigentlich
verhält, wovon die Rede ist, sondern nur, daß den Anwesenden das annehmlich
erscheine, was sie selbst festgestellt haben, danach trachten sie. Und ich scheine
gegenwärtig nur so viel mich von ihnen zu unterscheiden, daß ich nicht danach
trachten will, daß den Anwesenden das, was ich behaupte, wahr erscheine, außer
beiläufig, sondern daß es mir selbst nur recht gewiß sich so zu verhalten scheine.
Ich berechne nämlich, lieber Freund, (und siehe nur, wie eigennützig!): Wenn
das wahr ist, was ich behaupte, ist es doch vortrefflich, davon überzeugt zu
sein; wenn es aber für die Toten nichts mehr gibt, werde ich doch wenigstens
diese Zeit noch vor dem Tode den Anwesenden weniger unangenehm sein durch Klagen;
dieser mein Irrtum dauert aber nicht mit aus, denn das wäre ein Übel, sondern
wird in kurzem untergehn. So gerüstet also, sprach er, o Simmias und Kebes,
mache ich mich an die Rede. Ihr aber, wenn ihr mir folgen wollt, kümmert euch
wenig um den Sokrates, sondern weit mehr um die Wahrheit, und wenn ich euch
dünke etwas Richtiges zu sagen, so stimmt mir bei; wenn aber nicht, so widerstrebt
mir auf alle Weise, damit ich nicht, im Eifer mich und euch zugleich betrügend,
euch wie eine Biene den Stachel zurücklassend davongehe!
Wohlan denn, fuhr er fort, erinnert mich zuerst, was ihr sagtet, wenn ihr
vielleicht findet, daß ich es nicht recht behalten habe! Simmias, denke ich,
ist ungewiß und fürchtet, die Seele möchte, obwohl etwas Göttlicheres und Schöneres
als der Leib, doch vor ihm untergehen, indem sie ihrer Natur nach eine Harmonie
sei. Kebes aber schien dieses zwar mir zuzugeben, daß die Seele ja dauerhafter
sei als der Leib; aber das könne doch niemand wissen, ob nicht die Seele, wenn
sie nun viele Leiber oft verbraucht hat, den letzten Leib doch zurückläßt und
nun selbst umkommt und dieses dann eben der Tod ist, der Untergang der Seele,
denn der Leib geht ja doch immer unter ohne Aufhören. Ist es dieses, o Simmias
und Kebes, was wir jetzt zu betrachten haben?
Sie gaben beide zu, dieses sei es.
Und die vorigen Reden, sprach er, nehmt ihr die alle nicht an, oder einige
zwar, andere aber nicht? Einige wohl, sprachen sie, andere aber nicht. Was sagt
ihr also von jener Rede, sprach er, in welcher wir behaupteten, alles Lernen
sei Erinnerung, und wenn sich dies so verhalte, müsse notwendig unsere Seele
anderswo vorher sein, ehe sie an den Leib gebunden worden?
Ich meinesteils, sprach Kebes, war damals wunderbar überzeugt davon und bleibe
auch jetzt dabei wie bei nichts anderem.
Und mir, sagte Simmias, geht es ebenso, und es sollte mich wundern, wenn
ich jemals hierüber anders dächte.
Aber du mußt doch anders denken, o Freund aus Theben, sprach Sokrates, wenn
nämlich jene Meinung bestehen soll, daß eine Harmonie ein zusammengesetztes
Ding ist, und daß die Seele als eine Harmonie aus dem, was in dem Leibe unter
sich gespannt ist, bestehe. Denn du wirst doch nicht sagen wollen, die Harmonie
sei eher vorhanden, als dasjenige da ist, woraus sie hervorgehen muß, oder willst
du das?
Keineswegs, o Sokrates, sagte er.
Merkst du nun aber wohl, sagte er, daß dir dieses herauskommt, wenn du sagst,
die Seele sei eher, als sie in menschliche Gestalt und Leib komme, sie sei aber
zusammengesetzt aus dem, was dann noch nicht ist? Die Harmonie wenigstens ist
nicht so, der du sie vergleichst; sondern die Leier und die Saiten und die Töne
sind vorher ungestimmt da, und zuletzt von allen entsteht die Harmonie und geht
zuerst wieder unter. Wie kann dir nun diese Rede mit jener zusammenstimmen?
Gar nicht, sprach Simmias.
Und doch, sprach er, sollte ja wohl, wenn irgend eine Rede, die über die
Harmonie gut zusammenstimmen.
Das sollte sie wohl, sagte Simmias.
Diese aber, sagte er, stimmt dir doch nicht; also sieh zu, welche von beiden
du wählen willst: die, daß das Lernen Erinnerung ist, oder die, daß die Seele
Harmonie ist?
Viel lieber jene, o Sokrates, sagte er. Denn diese letztere ist mir ohne
allen Beweis gekommen nur aus einer gewissen Wahrscheinlichkeit und Angemessenheit,
woher auch die meisten Menschen zu ihren Meinungen kommen; ich weiß aber, daß
die Reden, die sich nur durch einen solchen Schein bewähren, leere Prahler sind,
und wenn man sich nicht wohl mit ihnen vorsieht, einen gar leicht betrügen,
in der Geometrie und in allem andern. Jene Rede aber von dem Lernen und der
Erinnerung beruht auf einem annehmungswürdigen Grunde: denn es war gesagt worden,
daß unsere Seele auch, ehe sie in den Leib komme, ebenso sei, wie jenes Wesen
ihr eignet, welches den Beinamen führt dessen, was ist. Und dieses habe ich,
wie ich mich selbst überzeuge, ganz mit Recht und mit gutem Grunde angenommen.
Daher ist nun notwendig, wie ich sehe, daß ich es weder mir noch einem andern
gelten lasse, welcher sagt, die Seele sei eine Harmonie.
Und was, sprach er, o Simmias, sagst du hierzu? Scheint dir wohl der Harmonie
oder irgend einer andern Zusammensetzung zuzukommen, daß sie sich anders verhalten
könne wie jenes, woraus sie besteht?
Keineswegs.
Auch nicht irgend etwas anderes tun, wie ich denke, oder leiden außer dem,
was jenes tut und leidet?
Er stimmte zu.
Also kommt auch wohl der Harmonie nicht zu, das anzuführen, woraus sie zusammengesetzt
ist, sondern zu folgen?
Das dünkte ihn auch so.
Weit gefehlt also, daß die Harmonie entgegengesetzt sich bewegen oder klingen
oder sonstwie entgegengesetzt sein könnte ihren Teilen.
Weit gefehlt, sagte er.
Und wie? Ist nicht ihrer Natur nach jede Harmonie geradeso Harmonie, wie
sie harmonisch gestimmt ist?
Das verstehe ich nicht, sagte er.
Nicht, sagte er, wenn sie besser gestimmt ist oder in höherem Grade, falls
dieses geschehen kann, wird sie dann nicht auch mehr Harmonie sein und in höherem
Grade; Wenn aber in geringerem und weniger, dann auch nicht so sehr und weniger?
Freilich.
Findet nun das wohl auch bei der Seele statt, daß eine Seele auch nur im
allergeringsten mehr und in höherem Grade oder weniger und in geringerem als
die andere eben dieses, Seele, sein kann?
Nicht im mindesten, sagte er.
Wohlan denn, beim Zeus, sprach er, von der einen Seele sagt man doch, daß
sie Vernunft hat und Tugend und gut ist, von der andern aber, daß sie Unvernunft
und Verderben hat und schlecht ist, und das sagt man doch mit Recht?
Mit Recht freilich.
Die nun sagen, daß die Seele eine Harmonie ist, was werden die wohl sagen,
daß dieses sei in den Seelen, die Tugend und das Laster? Etwa wiederum eine
andere Harmonie und Mißharmonie? So daß die eine harmonisch gestimmt ist, die
gute, und in ihr selbst, die doch Harmonie ist, eine andere Harmonie hat, die
andere aber wiederum mißharmonisch gestimmt ist und keine andere Harmonie in
sich hat?
Ich weiß es nicht zu sagen, sprach Simmias: offenbar aber müßte so etwas
sagen, wer jenes voraussetzt.
Darüber aber sind wir ja vorher einig geworden, daß keine Seele mehr oder
weniger Seele ist als die andere, und dies ist doch ebensoviel, als daß keine
Harmonie mehr oder weniger Harmonie ist als die andere; nicht wahr?
Freilich.
Die aber weder mehr noch weniger Harmonie ist, ist auch weder mehr noch weniger
harmonisch gestimmt. Ist es so?
So ist es.
Die aber weder mehr noch weniger harmonisch gestimmte, hat die wohl größeren
oder geringeren Anteil an dem Wesen der Harmonie oder gleichen? Gleichen.
Also auch die Seele, wenn die eine eben dieses, Seele, weder mehr noch weniger
ist als die andere, ist sie also auch weder mehr noch weniger harmonisch gestimmt?
So ist es.
Und steht es so, so hat auch die eine weder mehr noch weniger Anteil an Mißharmonie
oder Harmonie?
Freilich nicht.
Und steht es wiederum so, könnte dann wohl die eine mehr oder weniger als
die andere Anteil haben an Tugend und Laster, wenn doch das Laster Mißharmonie
ist und die Tugend Harmonie?
Nicht mehr.
Oder vielmehr, o Simmias, wenn wir es recht genau nehmen, wird keine Seele
irgend Anteil am Laster haben, wenn sie Harmonie ist. Denn da die Harmonie immer
vollkommen eben dieses ist, nämlich Harmonie, so kann sie an der Mißharmonie
gar niemals Anteil haben.
Freilich nicht.
Dann also auch nicht die Seele, da sie vollkommen Seele ist, am Laster.
Wie ginge das wohl nach dem Gesagten?
Nach dieser Rede also werden uns alle Seelen aller Lebendigen gleich gut
sein, wenn sie doch ihrer Natur nach gleich sehr dieses sind, nämlich Seelen.
So dünkt mich auch, Sokrates, sprach er.
Dünkt es dich aber auch recht so gesagt zu sein, und daß deine Rede dieses
Schicksal hätte, wenn die Annahme richtig wäre, daß die Seele Harmonie sei?
Ganz und gar nicht, sagte er.
Und wie? Über alles, was an dem Menschen ist, sagst du nicht, daß eben die
Seele herrsche, zumal noch die vernünftige?
Gewiß nichts anderes.
Und etwa immer nachgebend den Zuständen des Leibes, oder auch ihnen widerstrebend?
Ich meine nämlich so: wenn dieser Hitze hat oder Durst, daß sie doch auf die
entgegengesetzte Seite zieht, zum Nichttrinken, und wenn er Hunger hat, zum
Nichtessen; und in tausend andern Dingen sehen wir doch die Seele dem Leiblichen
widerstreben? Oder nicht?
Allerdings.
Haben wir aber nicht im vorigen zugegeben, daß sie niemals, wenn sie Harmonie
ist, entgegengesetzt klingen kann, wie jenes gespannt und nachgelassen und geschwungen
wird, oder was sonst dem widerfährt, woraus sie hervorgeht; sondern daß sie
jenem folgen muß und niemals anführen?
Das haben wir zugegeben; wie sollten wir nicht? Und wie? Scheint sie uns
nun nicht doch ganz das Gegenteil zu tun, alles jenes zu regieren, woraus man
doch sagt, daß sie bestehe, und dem fast überall das ganze Leben hindurch zu
widerstreben und es zu beherrschen auf alle Weise, bald härter im Zaum haltend
und auf schmerzhafte Weise, wie in Sachen der Gymnastik und Heilkunst, bald
wieder gelinder? Und bald drohend, bald verweisend mit den Begierden, dem Zorn,
der Furcht, als eine andere mit einem andern redend? Etwa so, wie auch Homeros
in der Odyssee gedichtet hat, wo er vom Odysseus sagt:
Aber er schlug an die Brust und strafte das Herz mit den Worten: Dulde nur
aus, mein Herz, noch Härteres hast du geduldet!
Meinst du wohl, er habe dies gedichtet in der Meinung, sie sei eine Harmonie
und eigne sich, geleitet zu werden von den Zuständen des Leibes, und nicht selbst
sie zu leiten und zu beherrschen, weil sie nämlich etwas weit Göttlicheres ist
als einer Harmonie zu vergleichen?
Beim Zeus, Sokrates, so kommt es auch mir vor. Also, mein Bester, mag es
wohl auf keine Weise recht sein von uns, zu sagen, die Seele sei eine Harmonie.
Denn wir würden, wie wir sehen, weder mit dem Homeros, dem göttlichen Dichter,
eins sein, noch mit uns selbst.
So verhalte es sich allerdings, sagte er. Gut denn, sagte Sokrates, mit der
Thebischen Harmonia sind wir, wie es scheint, noch so leidlich fertig geworden.
Wie werden wir uns nun aber, o Kebes, auch mit dem Kadmos einigen und auf welche
Weise?
Das, denke ich, sprach Kebes, wirst du schon auffinden. Diesen Beweis wenigstens
gegen die Harmonie hast du ganz wunderbar über meine Erwartung durchgeführt.
Denn als Simmias sagte, was für Zweifel er hätte, verwunderte es mich gar sehr,
was wohl jemand mit seiner Rede würde anfangen können, und doch konnte sie hernach
nicht einmal den ersten Anlauf der deinigen aushalten, wie mir schien. So würde
ich mich also auch nicht wundem, wenn dasselbe auch der Rede des Kadmos begegnete.
O Guter, sprach Sokrates, nur nicht großsprechen, damit uns nicht ein Zauber
das, was gesagt werden soll, verrufe und verdrehe! Doch das soll bei Gott stehen;
wir aber wollen nun auf gut homerisch näher tretend heran versuchen, ob du wohl
etwas Beachtenswertes sagst. Was du aber suchst, scheint mir der Hauptsache
nach zu sein: du verlangst, es soll gezeigt werden, daß unsere Seele unvergänglich
und unsterblich ist, wenn doch ein philosophischer Mann, der, im Begriff zu
sterben, guten Mutes ist und der Meinung, daß er nach seinem Tode sich dort
vorzüglich Wohlbefinden werde, mehr als wenn er einer andern Lebensweise folgend
gestorben wäre, wenn ein solcher nicht ganz unverständig und töricht sein soll
bei seinem guten Mut. Zu zeigen aber, daß die Seele etwas Starkes und Göttliches
ist und daß sie war, ehe wir geboren wurden, - dies alles, behauptest du, könne
gar füglich auch keine Unsterblichkeit andeuten, sondern daß die Seele zwar
etwas lange Beharrendes ist und wer weiß wie lange Zeit vorher irgendwo gewesen
ist und vielerlei gewußt und getan hat, aber deshalb doch noch nicht unsterblich
wäre; sondern eben dieses, daß sie in menschlichen Leib gekommen, könne schon
der Anfang ihres Unterganges gewesen sein, gleichsam als eine Krankheit, und
so könne sie in Jammer und Not dieses Leben leben und am Ende desselben in dem,
was man Tod nennt, untergehen. Und ob sie einmal in den Leib kommt oder oft,
dies, behauptest du, könne keinen Unterschied darin machen, daß doch jeder von
uns besorgt sein müsse: Denn es gehöre sich gar wohl, daß jeder, wer nicht unverständig
sein wolle, sich fürchte, der nicht wisse und keine Rechenschaft davon geben
könne, daß sie unsterblich ist. Dies ist es ungefähr, glaube ich, o Kebes, was
du meinst, und absichtlich wiederhole ich es öfter, damit uns nichts davon entgeht
und auch du, wenn du willst, etwas hinzusetzen und davontun kannst.
Darauf sagte Kebes: Für jetzt habe ich wohl nichts davonzutun oder hinzuzusetzen;
sondern dies ist es, was ich sagen will.
Darauf hielt Sokrates einige Zeit inne, als ob er etwas bei sich bedächte,
und sagte dann:
Es ist keine schlechte Sache, o Kebes, die du zur Sprache bringst.
Denn wir müssen nun im allgemeinen die Ursache vom Entstehen und Vergehen behandeln.
Ich also will dir, wenn du willst, darlegen, wie es mir damit ergeht. Scheint
dir dann etwas von dem, was ich sage, brauchbar zu sein zur Überzeugung von
dem, wonach du fragst, so brauche es!
Allerdings, sprach Kebes, das will ich!
So höre denn, was ich sagen werde:
In meiner Jugend nämlich, o Kebes, hatte
ich ein wundergroßes Bestreben nach jener Weisheit, welche man die Naturkunde
nennt: denn es dünkte mich ja etwas Herrliches, die Ursachen von allem zu wissen,
wodurch jegliches entsteht und wodurch es vergeht und wodurch es besteht, und
hundertmal wendete ich mich bald hier-, bald dorthin, indem ich bei mir selbst
zuerst dergleichen überlegte, ob, wenn das Warme und Kalte in Fäulnis gerät,
wie einige gesagt haben, dann Tiere sich bilden?
Und ob es wohl das Blut ist,
wodurch wir denken, oder die Luft oder das Feuer?
Oder ob wohl keines von diesen,
sondern das Gehirn uns alle Wahrnehmungen hervorbringt, die des Sehens und Hörens
und Riechens, und aus diesen dann Gedächtnis und Vorstellung entsteht; und ob
aus Erinnerung und Vorstellung, wenn sie zur Ruhe kommen, dann auf dieselbe
Weise Erkenntnis entsteht?
Und wenn ich wiederum das Vergehen von alle diesem
betrachtete und die Veränderungen am Himmel und auf der Erde, so kam ich mir
am Ende zu dieser ganzen Untersuchung vollkommen untauglich vor.
Und davon will
ich dir hinreichenden Beweis geben. Nämlich was ich vorher auch ganz genau wußte,
wie es mir und den andern vorkam, darüber erblindete ich nun bei dieser Untersuchung
so gewaltig, daß ich auch das verlernte, was ich vorher zu wissen glaubte von
vielen andern Dingen, und so auch davon, wodurch der Mensch wächst. Denn dies,
glaubte ich vorher, wisse jeder, daß es vom Essen und Trinken herkäme.
Denn
wenn aus den Speisen zum Fleische Fleisch hinzukommt und zu den Knochen Knochen
und ebenso nach demselben Verhältnis auch zu allem übrigen das Verwandte sich
hinzufindet, dann würde natürlich die Masse, die vorher wenig gewesen war, hernach
viel, und so wurde der kleine Mensch groß. So glaubte ich damals; scheint dir
das nicht ganz leidlich?
Ei wohl, sagte Kebes.
Bedenke auch noch dies:
Ich glaubte genug daran zu haben, wenn ein Mensch
neben einem andern kleinen stehend groß schien, daß er um einen Kopf größer
wäre, und so auch ein Pferd neben dem andern, und was noch deutlicher ist als
dieses: zehn schien mir mehr als acht zu sein, weil noch zwei dabei sind, und
das Zweifüßige größer als das Einfüßige, weil es um die Hälfte herüberragt.
Und jetzt, sprach Kebes, was dünkt dich jetzt hiervon?
Daß ich, sagte er, beim Zeus, gar weit entfernt bin, auch nur zu glauben,
daß ich von irgend etwas hiervon die Ursache wisse, da ich mir ja das nicht
einmal gelten lasse, daß, wenn jemand Eins zu Einem hinzunimmt, dann entweder
das Eine, zu welchem hinzugenommen worden, Zwei geworden ist, oder das Hinzugenommene
und das, zu welchem hinzugenommen worden, eben weil Eins zu dem Ändern hinzugekommen,
Zwei geworden sind.
Denn ich wundere mich, wie doch, als jedes für sich war,
jedes von ihnen soll Eines gewesen sein und sie damals nicht Zwei waren, nun
sie aber einander nahegekommen, dieses die Ursache gewesen ist, daß sie Zwei
geworden sind, die Vereinigung, daß man sie neben einander gestellt hat.
Und
eben sowenig, wenn jemand Eines zerspaltet, kann ich mich noch überreden, daß
wiederum dieses, die Spaltung, Ursache geworden ist, daß Zwei geworden sind.
Denn dies wäre ja eine ganz entgegengesetzte Ursache des Zweiwerdens als damals:
Damals nämlich, weil sie einander näher gebracht wurden und Eines zum Andern
hinzugesetzt, nun aber, weil Eines vom Andern hinweggeführt und getrennt wird.
Auch nicht, warum Eines wird, getraue ich mich noch zu wissen, noch sonst irgend
etwas mit einem Wort, warum es wird oder vergeht oder ist, nämlich nach dieser
Art und Weise der Untersuchung, sondern ich mische mir eine andere auf gut Glück
zusammen, diese aber lasse ich auf keine Weise gelten.
Sondern als ich einmal
einen hörte aus einem Buche vom Anaxagoras, wie er sagte, lesen, daß die Vernunft
das Anordnende ist und aller Dinge Ursache, an dieser Ursache erfreute ich mich,
und es schien mir auf gewisse Weise sehr richtig, daß die Vernunft von allem
die Ursache ist, und ich gedachte, wenn sich dies so verhält, so werde die ordnende
Vernunft auch alles ordnen und jegliches stellen, so wie es sich am besten befindet.
Wenn nun einer die Ursache von jeglichem finden wollte, wie es entsteht oder
vergeht oder besteht, so dürfe er nur dieses daran finden, wie es gerade diesem
am besten sei zu bestehen oder irgend sonst etwas zu tun oder zu leiden.
Und
demzufolge dann gezieme es dem Menschen nicht, nach irgend etwas anderem zu
fragen, sowohl in bezug auf sich als auf alles andere, als nach dem Trefflichsten
und Besten, und derselbe werde dann notwendig auch das Schlechtere wissen: denn
die Erkenntnis von beiden sei dieselbe.
Dieses nun bedenkend freute ich mich,
daß ich glauben konnte, über die Ursache der Dinge einen Lehrer gefunden zu
haben, der recht nach meinem Sinne wäre, nämlich den Anaxagoras, der mir nun
auch sagen werde, zuerst, ob die Erde flach ist oder rund, und wenn er es mir
gesagt, mir dann auch die Notwendigkeit der Sache und ihre Ursache dazu erklären
werde, indem er auf das Bessere zurückginge und mir zeigte, daß es für sie besser
wäre, so zu sein. Und wenn er behauptete, sie stände in der Mitte, werde er
mir dabei erklären, daß es für sie besser wäre, in der Mitte zu stehn; und wenn
er mir dies deutlich machte, war ich schon ganz entschlossen, nie mehr eine
andere Art von Ursache begehren zu wollen.
Ebenso war ich entschlossen, mich
nach der Sonne gleichermaßen zu erkundigen und nach dem Monde und den übrigen
Gestirnen wegen ihrer verhältnismäßigen Geschwindigkeit und ihrer Umwälzungen
und was ihnen sonst begegnet, woher es doch für jeden besser ist, das zu verrichten
und zu erleiden, was jeder erleidet.
Denn ich glaubte ja nicht, nachdem er einmal
behauptet, alles sei von der Vernunft geordnet, daß er irgend einen anderen
Grund mit hineinziehen werde, als daß es das Beste sei, daß sie sich so verhalten,
wie sie sich verhalten; und also glaubte ich, indem er für jedes einzelne und
für alles insgemein den Grund nachwiese, werde er das Beste eines jeglichen
darstellen und das für alles insgesamt Gute.
Und für vieles hätte ich diese
Hoffnung nicht weggegeben; sondern ganz emsig griff ich zu den Büchern und las
sie durch, so schnell ich nur konnte, um nur aufs schnellste das Beste zu erkennen
und das Schlechtere.
Und von dieser wunderbaren Hoffnung, o Freund, fiel ich
ganz herunter, als ich fortschritt und las und sah, wie der Mann mit der Vernunft
gar nichts anfängt und auch sonst gar nicht Gründe anführt, die sich beziehen
auf das Anordnen der Dinge, dagegen aber allerlei Luft und Äther und Wasser
vorschiebt und sonst vieles zum Teil Wunderliches.
Und mich dünkte, es sei ihm
so gegangen, als wenn jemand zuerst sagte:
»Sokrates tut alles, was er tut,
mit Vernunft«, dann aber, wenn er sich daran machte, die Gründe anzuführen von
jeglichem, was ich tue, dann sagen wollte, zuerst, daß ich jetzt deswegen hier
säße, weil mein Leib aus Knochen und Sehnen besteht und die Knochen dicht sind
und durch Gelenke voneinander geschieden, die Sehnen aber so eingerichtet, daß
sie angezogen und nachgelassen werden können und die Knochen umgeben nebst dem
Fleisch und der Haut, welche sie zusammenhält. Da nun die Knochen in ihren Gelenken
schweben, so machten die Sehnen, wenn ich sie nachlasse und anziehe, daß ich
jetzt imstande sei, meine Glieder zu bewegen, und aus diesem Grunde säße ich
jetzt hier mit gebogenen Knieen. Ebenso, wenn er von unserm Gespräch andere
dergleichen Ursachen anführen wollte, die Töne nämlich und die Luft und das
Gehör und tausenderlei dergleichen herbeibringend, ganz vernachlässigend, die
wahren Ursachen anzuführen, daß nämlich, weil es den Athenern besser gefallen
hat, mich zu verdammen, deshalb es auch mir besser geschienen hat, hier sitzenzubleiben,
und gerechter geschienen hat, hier zu bleiben und die Strafe geduldig auf mich
zu nehmen, welche sie angeordnet haben. Denn, beim Hunde, schon lange, glaube
ich wenigstens, wären diese Sehnen und Knochen in Megara oder bei den Boiotiern,
durch die Vorstellung des Besseren in Bewegung gesetzt, hätte ich es nicht für
gerechter und schöner gehalten, lieber als daß ich fliehen und davongehen sollte,
dem Staate die Strafe zu büßen, die er anordnet. Also dergleichen Ursachen zu
nennen ist gar zu wunderlich; wenn aber einer sagte, daß, ohne dergleichen zu
haben. Sehnen und Knochen und was ich sonst habe, ich nicht imstande sein würde,
das auszuführen, was mir gefällt, der würde richtig reden. Daß ich aber deshalb
täte, was ich tue, und es insofern mit Vernunft täte, nicht wegen der Wahl des
Besten, das wäre doch gar eine große und breite Leichtfertigkeit der Rede, wenn
sie nicht imstande wäre, zu unterscheiden, daß bei einem jeden Dinge etwas anderes
ist die Ursache und etwas anderes jenes, ohne welches die Ursache nicht Ursache
sein könnte; und eben dies scheinen mir wie im Dunkeln tappend die meisten mit
einem ungehörigen Namen, als wäre es selbst die Ursache, zu benennen. Darum
legt dann der eine einen Wirbel um die Erde und läßt sie dadurch unter dem Himmel
stehenbleiben; der andere stellt ihr, wie einem breiten Troge, einen Fußschemel,
die Luft, unter. Daß sie aber nun so liege, wie es am besten war sie zu legen,
die Bedeutung davon suchen sie gar nicht auf und glauben auch gar nicht, daß
darin eine besondere höhere Kraft liege, sondern meinen, sie hätten wohl einen
Atlas aufgefunden, der stärker wäre und unsterblicher als dieser, und der alles
besser zusammenhielte; das Gute und Richtige aber, glauben sie, könne überall
gar nichts verbinden und zusammenhalten. Ich nun wäre, um zu wissen, wie es
sich mit dieser Ursache verhält, gar zu gern jedermanns Schüler geworden, da
es mir aber so gut nicht wurde und ich dies weder selbst zu finden noch von
einem andern zu lernen vermochte, - willst du, daß ich dir von der zweitbesten
Fahrt wie ich sie durchgeführt habe zur Erforschung der Ursache, eine Beschreibung
gebe, o Kebes?
Ganz über die Maßen, sprach er, will ich das.
Es bedünkte mich nämlich nach diesem, da ich aufgegeben, die Dinge zu betrachten,
ich müsse mich hüten, daß mir nicht begegne, was denen begegnet, welche die
Sonnenfinsternis betrachten und anschauen: Viele nämlich verderben sich die
Augen, wenn sie nicht im Wasser oder sonst worin nur das Bild der Sonne anschauen.
So etwas merkte ich auch und befürchtete, ich möchte ganz und gar an der Seele
geblendet werden, wenn ich mit den Augen nach den Gegenständen sähe und mit
jedem Sinne versuchte, sie zu treffen. Sondern mich dünkt, ich müsse zu den
Gedanken meine Zuflucht nehmen und in diesen das wahre Wesen der Dinge anschauen.
Doch vielleicht ähnelt das Bild auf gewisse Weise nicht so, wie ich es aufgestellt
habe. Denn das möchte ich gar nicht zugeben, daß, wer das Seiende in Gedanken
betrachtet, es mehr in Bildern betrachte, als wer es in den Dingen betrachtet.
Also dahin wendete ich mich, und indem ich jedesmal den Gedanken zum Grunde
lege, den ich für den stärksten halte, so setze ich, was mir mit diesem übereinzustimmen
scheint, als wahr, es mag nun von Ursachen die Rede sein oder von was nur sonst;
was aber nicht, setze ich als nicht wahr. Ich will dir aber noch deutlicher
sagen, wie ich es meine; denn ich glaube, daß du es jetzt nicht verstehst.
Nein, beim Zeus, sagte Kebes, nicht eben sonderlich.
Ich meine es eben so, fuhr er fort, gar nichts Neues, sondern was ich schon
sonst immer und so auch in der eben durchgeführten Rede gar nicht aufgehört
habe zu sagen: Ich will nämlich gleich versuchen, dir den Begriff der Ursache
aufzuzeigen, womit ich mich beschäftigt habe, und komme wiederum auf jenes Abgedroschene
zurück und fange davon an, daß ich voraussetze, es gebe ein Schönes an und
für sich und ein Gutes und Großes und so alles andere, woraus - wenn du mir
zugibst und einräumst, daß es sei, - ich dann hoffe, dir die Ursache zu zeigen
und nachzuweisen, daß die Seele unsterblich ist.
So säume nur ja nicht, sprach Kebes, es durchzuführen, als hätte ich dir
dies längst zugegeben!
So betrachte denn, fuhr er fort, was daran hängt, ob dir das ebenso vorkommt
wie mir: Mir scheint nämlich, wenn irgend etwas anderes schön ist außer jenem
Schönen an sich, daß es wegen gar nichts anderem schön sei, als weil es teil
habe an jenem Schönen, und ebenso sage ich von allem. Räumst du diese Ursache
ein?
Die räume ich ein, sprach er.
Und so verstehe ich denn gar nicht mehr und begreife nicht jene andern gelehrten
Gründe; sondern wenn mir jemand sagt, daß irgend etwas schön ist, entweder weil
es eine blühende Farbe hat oder Gestalt oder sonst etwas dieser Art, so lasse
ich das andere - denn durch alles übrige werde ich nur verwirrt gemacht - und
halte mich ganz einfach und kunstlos und vielleicht einfältig bei mir selbst
daran, daß nichts anderes es schön macht als eben jenes Schöne, nenne es nun
Anwesenheit oder Gemeinschaft, wie nur und woher sie auch komme, denn darüber
möchte ich nichts weiter behaupten, sondern nur, daß vermöge des Schönen alle
schönen Dinge schön werden. Denn dies dünkt mich das Allersicherste zu antworten,
für mich und für jeden andern; und wenn ich mich daran halte, glaube ich, daß
ich gewiß niemals straucheln werde, sondern daß es für mich und jeden andern
sicher ist zu antworten, daß vermöge des Schönen die schönen Dinge schön werden.
Oder dünkt dich das nicht auch?
Das dünkt mich.
Also auch vermöge der Größe das Große groß und das Größere größer, und vermöge
der Kleinheit das Kleinere kleiner? Ja.
Also du würdest es auch nicht annehmen, wenn jemand von einem sagen wollte,
er sei größer als ein anderer vermöge des Kopfes und der Kleinere vermöge desselben
auch kleiner, sondern würdest darauf beharren, daß du gar nichts anderes meinst,
als daß alles, was größer ist als ein anderes, nur vermöge der Große größer
ist und wegen sonst nichts, und eben um deswillen, um der Größe willen, und
das Kleinere vermöge sonst nichts kleiner als um der Kleinheit willen, und eben
um deswillen kleiner, um der Kleinheit willen. Und das aus Furcht, glaube ich,
daß dir nicht eine andere Rede entgegentrete, wenn du sagtest, einer sei des
Kopfes wegen größer und kleiner, zuerst nämlich, daß wegen eines und desselben
das Größere größer sei und das Kleinere kleiner, und dann, daß des Kopfes wegen,
der doch selbst klein ist, das Größere größer sei, und daß das doch ein Wunder
sei, daß wegen etwas Kleinem einer groß sein soll. Oder würdest du das nicht
fürchten?
Da lachte Kebes und sagte: Freilich wohl.
Also, fuhr er fort, daß die Zehn mehr ist als die Acht, um die Zwei, und
um dieser Ursache willen es übertreffe, der Zwei wegen, und nicht der Vielheit
wegen und durch die Vielheit, - das würdest du dich fürchten zu sagen? So auch,
daß das Zweifüßige großer wäre als das Einfüßige, vermöge der Hälfte, und nicht
vermöge der Größe? Denn dabei ist doch dieselbe Besorgnis.
Allerdings, antwortete er.
Und wie? Wenn Eines zu Einem hinzugesetzt worden, daß dann die Hinzufügung
Ursache sei, daß Zwei geworden sind, und wenn Eines gespalten worden, dann die
Spaltung, - würdest du dich nicht scheuen, das zu sagen, und vielmehr laut erklären,
du wüßtest nicht, daß irgendwie anders jegliches werde, als indem es teil nähme
an dem eigentümlichen Wesen eines jeglichen, woran es teil hat, und so fändest
du gar keine andere Ursache des Zweigewordenseins als eben die Teilnehmung an
der Zweiheit, an welcher alles teilnehmen müsse, was Zwei sein sollte, so wie
an der Einheit, was Eins sein sollte?
Die Spaltungen aber und Hinzufügungen
und andere solche Herrlichkeiten, - würdest du die nicht liegen lassen und andern
anheim stellen, damit zu antworten, die gelehrter sind als du; du selbst aber,
aus Furcht, wie man sagt, vor deinem eigenen Schatten und deiner Ungeschicktheit,
an jener sicheren Voraussetzung dich haltend, würdest immer so antworten?
Wenn
sich aber einer an die Voraussetzung selbst hielte, würdest du den nicht gehen
lassen und nicht eher antworten, bis du, was von ihr abgeleitet wird, betrachtet
hättest, ob es mit einander stimmt oder nicht stimmt? Und solltest du dann von
jener selbst Rechenschaft geben, würdest du sie nicht auf die gleiche Weise
geben, nämlich eine andere Voraussetzung wieder voraussetzend, welche dir eben
von den höherliegenden die beste dünkte, bis du auf etwas Befriedigendes kämest,
nicht aber untereinandermischend wie die Streitkünstler bald von dem ersten
Grunde reden und bald von dem daraus abgeleiteten, wenn du nämlich irgend etwas,
wie es wirklich ist, finden wolltest?
Denn jene freilich haben hieran vielleicht
gar keinen Gedanken und keine Sorge, sondern sind imstande, wenn sie auch in
ihrer Weisheit alles durcheinander rühren, doch noch sich selbst zu gefallen.
Gehörst du aber zu den Philosophen, so, denke ich, wirst du es so machen, wie
ich sage.
Ganz vollkommen wahr redest du, sagten Simmias und Kebes zugleich.
Echekrates: Beim Zeus, o Phaidon, mit Recht! Denn gar wunderbar einleuchtend
scheint mir der Mann dieses gesagt zu haben für jeden, der auch nur ein wenig
Vernunft hat.
Phaidon: Allerdings, o Echekrates, und so schien es auch allen Anwesenden.
Echekrates: Und auch uns den Abwesenden, die es jetzt hören. Aber was war
nur, was hiernächst gesagt wurde?
Phaidon: Wie ich glaube, nachdem ihm dieses eingeräumt und zugestanden war,
daß jeglicher Begriff etwas sei an sich und daß durch Teilnahme an ihnen die
andern Dinge ihre Benennung von ihnen erhalten, so fragte er hierauf:
Wenn du
nun dieses so annimmst, mußt du dann nicht, wenn du behauptest, Simmias sei
größer als Sokrates, aber kleiner als Phaidon, sagen, daß in dem Simmias beides
sei, Größe und Kleinheit?
Freilich.
Und so gestehst du doch: daß Simmias den Sokrates überragt, damit verhalte
es sich nicht in der Tat so, wie es buchstäblich ausgedrückt wird? Denn es ist
nicht des Simmias Natur, schon dadurch, daß er Simmias ist, zu überragen, sondern
durch die Größe, die er zufällig hat; auch nicht den Sokrates zu überragen deshalb,
weil Sokrates Sokrates ist, sondern nur, weil Sokrates Kleinheit hat in bezug
auf jenes Größe.
Richtig.
Auch nicht vom Phaidon überragt zu werden deshalb, weil Phaidon Phaidon ist,
sondern weil er Größe hat in Vergleich mit Simmias' Kleinheit?
So ist es.
So hat also Simmias die Benennung, klein zu sein und groß, selbst in der
Mitte stehend zwischen beiden, indem er vermittelst des Übertreffens durch Größe
des einen Kleinheit übertrifft, dem anderen aber Größe zugesteht, welche seine
Kleinheit übertrifft. Dabei lächelte er und sagte: Ich werde wohl noch gar wie
ein Geschichtschreiber so genau reden; aber es verhält sich denn doch, wie ich
sage.
Jener stimmte bei.
Ich sage dies aber, weil ich möchte, du wärest derselben Meinung wie ich.
Denn mir leuchtet ein, daß nicht nur die Größe selbst niemals zugleich groß
und klein sein will, sondern daß auch die Größe in uns niemals das Kleine aufnimmt
oder übertroffen werden will, sondern eines von beiden: daß sie entweder flieht
und aus dem Wege geht, wenn ihr Gegenteil, das Kleine, sich nähert, oder, wenn
es da ist, untergeht, niemals aber, bleibend und die Kleinheit aufnehmend, etwas
anders sein will, als sie war; so wie ich allerdings, aushaltend und die Kleinheit
aufnehmend, derselbe bin, der ich war, und nur ebendieser selbe klein bin. Jene
aber hat nicht das Herz, indem sie groß ist, auch klein zu sein. So will auch
das Kleine in uns niemals groß werden oder sein; noch auch sonst will eins von
zwei Entgegengesetzten, dasselbe bleibend, was es war, zugleich auch sein Gegenteil
werden oder sein: sondern entweder geht es davon, oder es geht unter, wenn ihm
dies begegnet.
Auf alle Weise, sprach Kebes, leuchtet mir das auch ein.
Da sagte einer von den Anwesenden, wer es aber war, erinnere ich mich nicht
mehr genau: Bei den Göttern, war uns nicht in unsern vorigen Reden gerade das
Gegenteil von dem, was jetzt gesagt wird, herausgekommen, daß nämlich aus dem
Kleineren das Größere werde und aus dem Größeren das Kleinere, und daß gerade
dies die Art sei, wie Entgegengesetztes wird aus Entgegengesetztem? Nun aber
scheint mir gesagt zu werden, daß das gar nicht möglich ist.
Sokrates hatte sich hingeneigt und zugehört und sagte:
Das hast du wacker
erinnert; nur bemerkst du nicht den Unterschied zwischen dem jetzt Gesagten
und dem Damaligen.
Damals nämlich wurde gesagt, aus dem entgegengesetzten Dinge
werde das entgegengesetzte Ding; jetzt aber, daß das Entgegengesetzte selbst
sein Entgegengesetztes niemals werden will, weder das in uns noch das in der
Natur.
Damals nämlich, o Freund, redeten wir von den Dingen, die das Entgegengesetzte
an sich haben, und benannten sie mit den Namen von jenen; jetzt aber reden wir
von jenen selbst, durch deren Einwohnung die so genannten Dinge ihre Benennung
erhalten. Und von diesen selbst behaupten wir doch wohl nicht, daß sie einen
Übergang in einander zulassen.
Zugleich sah er den Kebes an und fragte: Hat auch dich vielleicht, o Kebes,
irregemacht, was dieser sagte?
Nein, sagte Kebes, so steht es nicht mit mir; wiewohl ich nicht sagen will,
daß nicht vieles mich irremacht.
Darüber also sind wir eins geworden, fuhr Sokrates fort, ganz unbedingt,
daß das Entgegengesetzte niemals sein Entgegengesetztes sein wird.
Auf alle Weise.
So betrachte denn auch noch dieses, ob du auch darüber mit mir einig sein
wirst: Du nennst doch etwas warm und kalt?
Das tue ich.
Etwa dasselbe, was auch Schnee und Feuer?
Nein, beim Zeus, ich nicht.
Sondern etwas anderes als das Feuer ist das Warme, und etwas anderes als
der Schnee das Kalte?
Ja.
Aber das, denke ich, glaubst du doch, daß niemals der Schnee als Schnee das
Warme aufnehmen und, wie wir im vorigen sagten, noch sein wird, was er war,
Schnee und zugleich warm; sondern wenn das Warme sich nähert, wird er ihm entweder
aus dem Wege gehn oder verschwinden.
Freilich.
Und so das Feuer wiederum, wenn ihm das Kalte naht, wird entweder darunter
weggehn oder verschwinden, nie aber das Herz haben, die Kälte aufzunehmen und
noch sein zu wollen, was es war, Feuer und kalt.
Wohlgesprochen, sagte er.
Diese Bewandtnis also, fuhr er fort, hat es mit einigen Dingen, daß nicht
nur der Begriff selbst sich seinen Namen aneignen will für alle Zeit, sondern
auch noch etwas anderes, welches zwar nicht er selbst ist, aber doch immer seine
Gestalt an sich trägt, solange es ist. Vielleicht wird hieran noch deutlicher
werden, was ich meine: Das Ungerade muß doch immer diesen Namen bekommen, den
wir jetzt genannt haben; oder nicht!
Allerdings.
Aber dieses allein, denn danach frage ich, oder auch noch etwas anderes,
welches zwar nicht das Ungerade selbst ist, aber was man doch immer auch mit
dem Namen desselben nennen muß weil es so geartet ist, daß es das Ungerade nie
kann fahren lassen! Ich meine damit das, was auch der Dreiheit begegnet und
noch vielem anderen. Denn überlege dir nur wegen der Drei: glaubst du nicht,
daß sie immer muß sowohl mit ihrem Namen genannt werden als auch mit dem des
Ungeraden, obgleich dieses nicht dasselbe ist wie die Dreiheit? Aber dennoch
ist dies die natürliche Beschaffenheit der Drei und der Fünf und überhaupt der
einen ganzen Hälfte der Zahlen, daß, obgleich sie nicht dasselbe ist wie das
Ungerade, doch jede von ihnen ungerade ist. Und wiederum die Zwei und die Vier
und die andere Reihe der Zahlen ist nicht dasselbe wie das Gerade, aber doch
ist jede von ihnen immer gerade. Gibst du das zu oder nicht?
Wie sollte ich nicht? sprach er.
So siehe nun zu, was ich eigentlich deutlich machen will: Es ist nämlich
dieses, daß nicht nur jenes Entgegengesetzte selbst sich einander nicht annimmt;
sondern auch alles das, was einander eigentlich nicht entgegengesetzt ist, doch
aber das Entgegengesetzte immer in sich hat, auch dieses scheint jene Idee nicht
annehmen zu wollen, die der in ihm wohnenden entgegengesetzt ist, sondern, wenn
sie kommt, entweder unterzugehn oder sich davonzumachen. Oder wollen wir nicht
sagen, die Drei werde eher untergehen und sich alles andere gefallen lassen,
als aushalten, Drei zu sein, und zugleich gerade zu werden?
Allerdings, sagte Kebes.
Nun ist doch die Zwei der Drei nicht entgegengesetzt.
Freilich nicht.
Also nicht nur die entgegengesetzten Begriffe lassen einander nicht zu, sondern
auch noch einiges andere läßt das Entgegengesetzte nicht an sich kommen.
Vollkommen richtig, sprach er, redest du. Sollen wir nun, fuhr jener fort,
wenn wir es können, bestimmen, welcherlei diese sind?
Allerdings.
Werden es nun nicht diejenigen sein, o Kebes, welche dasjenige, wovon sie
Besitz nehmen, nicht nur nötigen, ihre eigene Idee immer festzuhalten, sondern
auch immer die eines gewissen Entgegengesetzten?
Wie meinst du das?
Wie wir eben sagten. Denn du weißt doch: alles, wovon die Idee der Dreiheit
Besitz nimmt, ist notwendig nicht nur Drei, sondern auch ungerade?
Freilich.
Zu einem solchen nun, sagen wir, kann die Idee, welche der Form entgegengesetzt
ist, die dies bewirkt, niemals kommen?
Freilich nicht.
Bewirkt hat dies aber die Form des Ungeraden?
Ja.
Und entgegengesetzt dieser ist die des Geraden?
Ja.
Also kann zu der Drei niemals die Form des Geraden kommen.
Offenbar nicht.
Ohne allen Anteil an dem Geraden ist also die Drei?
Ohne Anteil.
Also ist die Drei ungerade?
Ja.
Was ich also bestimmen wollte, welche Dinge nämlich, ohne einem gewissen
anderen entgegengesetzt zu sein, doch dessen Gegenteil nicht annehmen, - wie
jetzt die Drei dem Geraden nicht entgegengesetzt ist, es aber trotzdem doch
nicht aufnimmt; denn immer bringt sein Gegenteil mit sowohl die Zwei dem Ungeraden
als das Feuer dem Kalten, und vieles andere; - siehe nun zu, ob du dieses wohl
so bestimmst, daß nicht nur ein Entgegengesetztes das andere nicht aufnimmt,
sondern auch, wenn etwas allem, woran es sich macht, den einen Gegensatz zubringt,
so kann eben dieses Zubringende den Gegensatz des Zugebrachten niemals annehmen.
Rufe es dir nur noch einmal zurück: denn es ist nicht übel, es oft zu hören.
Die Fünf wird nie die Form des Geraden annehmen, noch die Zehn die des Ungeraden
als das Zwiefache. Auch dieses selbst ist einem andern entgegengesetzt, aber
dennoch nimmt es die Form des Ungeraden nicht an. Ebensowenig das Anderthalbe
und alles dergleichen als Halbes die des Ganzen, oder das Dritteil und alles
dergleichen, wenn du folgst und beistimmst.
Gar sehr, sprach er, stimme ich bei und folge auch.
So sage mir denn, sprach er, noch einmal von Anfang an und antworte mir,
nicht das gerade, was ich frage, sondern mich nachahmend ein anderes! Ich sage
das nämlich, weil ich außer jener vorher gegebenen sicheren Antwort vermittelst
des jetzt Gesagten noch eine andere Sicherheit absehe. Denn wenn du mich fragtest,
was doch in dem Leibe einwohnt, wenn dieser warm ist, so würde ich dir nicht
jene einfältige sichere Antwort geben, daß Wärme in ihm sei, sondern eine feinere
vermöge des jetzt Gesagten, nämlich daß Feuer in ihm sei. Noch auch, wenn du
fragtest, was doch dem Leibe einwohnt, wenn dieser krank ist, werde ich sprechen,
daß Krankheit in ihm sei, sondern daß Fieber in ihm sei. Noch auch, wenn du
fragtest, was doch einer Zahl einwohnt, wenn sie ungerade ist, werde ich antworten,
daß Ungeradigkeit in ihr ist, sondern Einheit, und so überall. Siehe nun zu,
ob du schon zur Genüge verstehst, was ich will!
Vollkommen zur Genüge, sagte er!
Antworte also, sprach er: Wenn was doch dem Leibe einwohnt, wird er lebend
sein?
Wenn Seele, antwortete er.
Und verhält sich dies auch immer so?
Wie sollte es nicht? sagte er.
Die Seele also, wessen sie sich bemächtigt, zu dem kommt sie und bringt immer
Leben mit?
Das tut sie freilich.
Ist nun wohl etwas dem Leben entgegengesetzt oder nichts?
Ja.
Und was?
Der Tod.
Also wird wohl die Seele das Gegenteil dessen, was sie immer mitbringt, nie
annehmen, wie wir aus dem vorigen festgesetzt haben?
Ganz gewiß.
Wie nun? Was die Idee des Geraden nie aufnimmt, wie nannten wir das eben?
Ungerade.
Und was das Gerechte nie annimmt und das Künstlerische nie annimmt?
Unkünstlerisch, sprach er, und jenes ungerecht.
Gut. Und was den Tod nie annimmt, wie nennen wir das?
Unsterblich, sagte er.
Und die Seele nimmt doch den Tod nie an?
Nein.
Unsterblich also ist die Seele?
Unsterblich.
Gut, sprach er. Wollen wir also sagen, dies sei erwiesen, oder wie dünkt
dich?
Und zwar ganz vollständig, o Sokrates?
Wie nun, sprach er, o Kebes? Wenn das Ungerade notwendig unvergänglich wäre,
würde dann die Drei nicht auch unvergänglich sein?
Wie sollte sie nicht?
Und nicht wahr, wenn auch das Unwarme notwendig unvergänglich wäre, so müßte,
wenn jemand an den Schnee Wärme brächte, der Schnee sich davonmachen, aber wohlbehalten
und ungeschmolzen? Denn vergehen könnte er ja nicht, aber auch nicht bleiben
und die Wärme aufnehmen.
Richtig, sagte er.
Und ebenso, denke ich, wenn das Unkalte unvergänglich wäre und jemand an
das Feuer Kaltes brächte, so würde es nicht verlöschen und auch nicht vergehen,
sondern nur wohlbehalten sich entfernen.
Notwendig.
Muß man nun nicht ebenso auch von dem Unsterblichen sagen, daß, wenn das
Unsterbliche auch unvergänglich ist, die Seele unmöglich, wenn der Tod an sie
kommt, untergehen kann? Denn den Tod, vermöge des Vorhergesagten, kann sie nicht
annehmen und gestorben sein, wie die Drei niemals gerade sein kann, ebensowenig
als das Ungerade selbst, noch auch das Feuer kalt, ebensowenig als die Wärme
in dem Feuer. »Aber was hindert«, könnte jemand sagen, »daß das Ungerade zwar
niemals gerade wird, wenn das Gerade ihm ankommt, wie auch eingestanden ist,
aber wohl, daß es umkommt und statt seiner uns ein Gerades entsteht?« Wer nun
das sagte, dem könnten wir nicht abstreiten, daß es nicht umkomme; denn das
Ungerade ist nicht unvergänglich. Wenn aber dies erst eingestanden wäre, dann
könnten wir leicht durchfechten, daß, wenn das Gerade kommt, das Ungerade und
die Drei nur davongehn, und vom Feuer und dem Warmen und allem andern würden
wir es ebenso durchfechten. Oder nicht?
Gewiß.
Nicht so auch jetzt von dem Unsterblichen? Wenn uns nur erst eingestanden
wäre, daß es zugleich auch unvergänglich ist, wäre uns die Seele außerdem, daß
sie unsterblich ist, auch unvergänglich; wo aber nicht, so müßte man es anders
anfangen.
Dessen bedarf es nun wohl nicht, sprach er, was dies betrifft. Denn gute
Wege hätte es, daß irgend etwas sich dem Untergang entziehen könnte, wenn auch
das Unsterbliche und immer Seiende den Untergang annähme.
Wenigstens daß Gott, sprach Sokrates, und die Idee des Lebens selbst, wenn
überhaupt etwas unsterblich ist, niemals untergehe, wird wohl von jedem eingestanden
werden.
Beim Zeus, sagte er, von jedem Menschen ja schon, und noch mehr, denke ich,
von den Göttern. Wenn also das Unsterbliche auch unvergänglich ist, wäre dann
nicht die Seele, wenn sie doch unsterblich ist, zugleich auch unvergänglich?
Ganz notwendig.
Tritt also der Tod den Menschen an, so stirbt, wie es scheint, das Sterbliche
an ihm, das Unsterbliche aber und Unvergängliche zieht wohlbehalten ab, dem
Tode aus dem Wege.
Das leuchtet ein.
Ganz sicher also, o Kebes, ist die Seele unsterblich und unvergänglich, und
in Wahrheit werden unsere Seelen in der Unterwelt sein.
Ich wenigstens, o Sokrates, sagte er, vermag weder etwas anderes hiergegen
vorzubringen noch deinen Reden den Glauben zu versagen; weiß aber unser Simmias
oder sonst ein anderer etwas, so wird es wohlgetan sein, es nicht zu verschweigen.
Denn ich wüßte nicht, auf welche andere Gelegenheit als die jetzt noch vorhandene
es jemand verschieben könnte, der etwas über diese Gegenstände sagen oder hören
will.
Allerdings, sagte Simmias, weiß auch ich nicht, wie ich nicht beistimmen
soll, dem Gesagten zufolge; jedoch wegen der Größe der Gegenstände, worauf die
Reden sich beziehen, und wie ich auf die menschliche Schwachheit wenig halte,
bin ich gedrungen, bei mir selbst noch einen Unglauben zu behalten über das
Gesagte.
Nicht nur das, o Simmias, sagte Sokrates, sondern wie du hierin ganz recht
gesprochen hast, müßt ihr auch in alle Wege unsere ersten Voraussetzungen, wenn
sie euch auch zuverlässig sind, doch noch genauer in Erwägung ziehen; und wenn
ihr sie euch befriedigend auseinandergesetzt habt, dann, denke ich, werdet ihr
auch der Rede folgen, soweit nur irgend ein Mensch sie verfolgen kann. Und wenn
eben dieses gewiß geworden ist, dann werdet ihr nichts weiter suchen.
Vollkommen richtig.
Und so ist denn dieses, ihr Männer, wohl wert, bemerkt zu werden, daß, wenn
die Seele unsterblich ist, sie auch der Sorgfalt bedarf, nicht für diese Zeit
allein, welche wir das Leben nennen, sondern für die ganze Zeit, und das Wagnis
zeigt sich nun eben erst recht furchtbar, wenn jemand sie vernachlässigen wollte.
Denn wenn der Tod eine Erledigung von allem wäre, so wäre es ein Glücksfund
für die Schlechten, wenn sie sterben, ihren Leib loszuwerden, aber auch ihre
Schlechtigkeit mit der Seele zugleich. Nun aber diese sich als unsterblich zeigt,
kann es ja für sie keine Sicherheit vor dem Übel geben und kein Heil als nur,
wenn sie so gut und vernünftig geworden ist als möglich.
Denn nichts anderes
kann sie doch mit sich haben, wenn sie in die Unterwelt kommt, als nur ihre
Bildung und Nahrung, die ihr ja auch, wie man sagt, gleich so, wie sie gestorben
ist, den größten Nutzen oder Schaden bringt, gleich am Anfang der Wanderung
dorthin.
Denn man sagt ja, daß jeden Gestorbenen sein Dämon, der ihn schon lebend
zu besorgen hatte, auch dann an einen Ort zu führen sucht, von wo aus mehrere
zusammen, nachdem sie gerichtet sind, in die Unterwelt gehen mit jenem Führer,
dem es aufgetragen ist, die von hier dorthin zu führen.
Nachdem ihnen dann dort
geworden, was ihnen gebührt, und sie die gehörige Zeit dageblieben, bringt ein
anderer Führer sie wieder von dort hierher zurück nach vielen und großen Zeitabschnitten.
Und diese Reise ist wohl nicht so, wie der Telephos des Aischylos sie beschreibt.
Denn jener sagt, es fahre nur ein einfacher Fußsteig in die Unterwelt;
ich aber
glaube, daß es weder einer ist noch ein einfacher. Sonst würde es ja keines
Führers bedürfen, denn nirgendshin kann man ja fehlgehen, wo nur ein Weg geht.
Nun aber mag er sich wohl oftmals teilen und winden. Dies schließe ich aus dem,
was bei uns als heilige Feier eingeführt und gebräuchlich ist. Die sittige und
vernünftige Seele nun folgt und verkennt nicht, was ihr widerfährt; die aber
begehrlich an dem Leibe sich hält, wie ich auch vorher sagte, drängt sich lange
Zeit immer um ihn herum und in dem sichtbaren Ort umher, und nach vielem Sträuben
und vielen Versuchen wird sie endlich mit Mühe und gewaltsam von dem beauftragten
Dämon abgeführt.
Kommt sie nun dahin, wo auch die andern sich befinden, so wird
die unreine und die etwas dergleichen verübt hat, habe sie sich nun mit ungerechtem
Morde befaßt oder anderes dergleichen begangen, was dem verschwistert und verschwisterter
Seelen Werk ist, jeder meiden und ihr ausweichen und weder ihr Reisegefährte
noch ihr Führer werden wollen; sie aber irrt in gänzlicher Unsicherheit befangen,
bis gewisse Zeiten um sind, nach deren Verlauf die Notwendigkeit sie in die
ihr angemessene Wohnung bringt.
Die aber rein und mäßig ihr Leben verbracht
und Götter zu Reisegefährten und Führern bekommen hat, bewohnt jede den ihr
gebührenden Ort.
Es hat aber die Erde viele und wunderbare Orte und ist weder
an Größe noch Beschaffenheit so, wie von denen, die über die Erde zu reden pflegen,
geglaubt wird, nach dem, was mir einer glaublich gemacht hat.
Darauf sagte Simmias: Wie meinst du das, o Sokrates? Denn über die Erde habe
ich auch schon vielerlei gehört, wohl aber nicht das, was dich befriedigt; darum
möchte ich es gern hören.
Das ist ja wohl keine große Kunst, o Simmias, sagte er, zu erzählen, was
ist; aber freilich, daß es so wahr ist, das möchte wieder schwerer sein als
schwer; und teils möchte ich es vielleicht nicht können, teils auch, wenn ich
es verstände, möchte doch mein Leben wenigstens, o Simmias, für die Größe der
Sache nicht mehr hinreichen. Doch die Gestalt der Erde, wie ich belehrt bin,
daß sie sei, und ihre verschiedenen Orte zu beschreiben hindert mich nichts.
Auch das, sprach Simmias, soll uns genug sein. Zuerst also bin ich belehrt
worden, daß, wenn sie rund inmitten des Himmels steht, sie weder Luft brauche,
um nicht zu fallen, noch irgend einen andern solchen Grund; sondern, um sie
zu halten, sei hinreichend die durchgängige Einerleiheit des Himmels und das
Gleichgewicht der Erde selbst.
Denn ein im Gleichgewicht befindliches Ding,
in die Mitte eines anderen solchen gesetzt, wird keinen Grund haben, sich irgendwohin
mehr oder weniger zu neigen, und daher wird es in der gleichen Lage ohne Neigung
bleiben. Dieses, sagte er, habe ich zuerst angenommen.
Und sehr mit Recht, sprach Simmias.
Dann auch, daß sie sehr groß sei, und daß wir, die vom Phasis bis an die
Säulen des Herakles reichen, nur an einem sehr kleinen Teile, wie Ameisen oder
Frösche um einen Sumpf, um das Meer herum wohnen, viele andere aber anderwärts
an vielen solchen Orten.
Denn es gebe überall um die Erde her viele Höhlungen
und mannigfaltige von Gestalt und Größe, in welchen Wasser und Nebel und Luft
zusammengeflossen sind; die Erde selbst aber liege rein in dem reinen Himmel,
an welchem auch die Sterne sind, und den die meisten, welche über dergleichen
zu reden pflegen, Äther nennen, dessen Bodensatz nun eben dieses ist, und es
fließt immer in den Höhlungen der Erde zusammen.
Wir nun merkten es nicht, daß
wir nur in diesen Höhlungen der Erde wohnten, und glaubten, oben auf der Erde
zu wohnen, wie wenn ein mitten im Grunde der See Wohnender glaubte, oben an
dem Meere zu wohnen, und weil er durch das Wasser die Sonne und die andern Sterne
sähe, das Meer für den Himmel hielte, aus Trägheit aber und Schwachheit niemals
bis an den Saum des Meeres gekommen wäre noch über das Meer aufgetaucht und
hervorgekrochen, um diesen Ort zu schauen, wieviel reiner und schöner er ist
als der bei ihm, noch auch von einem andern, der ihn gesehen, dies gehört hätte:
gerade so erginge es auch uns.
Denn wir wohnten in irgend einer Höhlung der
Erde und glaubten, oben darauf zu wohnen, und nennten die Luft Himmel, als ob
diese der Himmel wäre, durch welchen die Sterne wandeln.
Damit aber sei es gerade
so, daß wir aus Trägheit und Schwachheit nicht vermöchten hervorzukommen bis
an den äußersten Saum der Luft.
Denn wenn jemand zur Grenze der Luft gelangte
oder Flügel bekäme und hinaufflöge, so würde er dann hervortauchen und sehen,
wie hier die Fische, wenn sie einmal aus dem Meer heraustauchen, sehen, was
hier ist, - so würde dann ein solcher auch das Dortige sehen und, wenn seine
Natur die Betrachtung auszuhalten vermöchte, dann erkennen, daß jenes der wahre
Himmel ist und das wahre Licht und die wahre Erde.
Denn die Erde hier bei uns
und die Steine und der ganze Ort hier ist zerfressen und verwittert, wie das,
was im Meere liegt, vom Salz angefressen ist: denn nichts der Rede Wertes wächst
im Meere, noch gibt es irgend etwas Vollkommenes darin, sondern nur Klüfte und
Sand und unendlichen Kot und Schlamm, wo es noch Erde gibt, und nichts, was
irgend mit unsern Schönheiten könnte verglichen werden; jenes aber würde wiederum
noch weit vorzüglicher sich zeigen vor dem Unsrigen. Und darf man wohl eine
schöne Erzählung vorbringen, Simmias, so lohnt es wohl, zu hören, wie das auf
der Erde unter dem Himmel Befindliche beschaffen ist.
Gewiß, sprach Simmias, werden wir diese Erzählung gern hören, o Sokrates.
Man sagt also zuerst, o Freund, diese Erde sei so anzusehen, wenn sie jemand
von oben herab betrachtete, wie die zwölfteiligen ledernen Bälle, in so bunte
Farben geteilt, von denen unsere Farben hier gleichsam Proben sind, alle die,
deren sich die Maler bedienen.
Dort aber bestehe die ganze Erde aus solchen
und noch weit glänzenderen und reineren als diese. Denn ein Teil sei purpurrot
und wunderbar schön, ein anderer goldfarbig, ein anderer weiß, aber viel weißer
als Alabaster oder Schnee, und ebenso aus jeder anderen Farbe bestehe einer
und aus noch mehreren und schöneren, als wir je gesehen haben.
Denn selbst diese
Höhlungen der Erde, welche mit Wasser und Luft angefüllt sind, bilden eine eigene
Art von Farbe, welche in der Vermischung aller anderen Farben glänzt, so daß
sie ganz und gar als ein ununterbrochenes Bunt erscheint. Auf dieser so beschaffenen
nun wachsen verhältnismäßig eben solche Gewächse: Bäume, Blumen und Früchte.
Ebenso haben auch die Gebirge und die Steine nach demselben Verhältnis ihre
Vollendung und Durchsichtigkeit und schönere Farben, von denen aber auch unsere
so sehr gesuchten Steinchen hier Teile sind, die Karneole und Jaspisse und Smaragden
und alle dergleichen; dort aber sei nichts, was nicht so wäre und noch schöner
als diese.
Die Ursache hiervon aber sei, daß jene Steine rein sind und nicht
angefressen noch verwittert wie die hiesigen von Fäulnis und Schärfe alles dessen,
was hier zusammenfließt und Steinen und Erden und allen Gewächsen und Tieren
Entstellungen und Krankheiten verursacht. Die Erde also sei mit alle diesem
geschmückt und außerdem noch mit Gold und Silber und dem übrigen der Art, welches
glänzend dort zu finden sei und in großer Menge wachse und überall auf der Erde,
so daß sie zu schauen ein beseligendes Schauspiel sei. Lebewesen aber gebe es
auf ihr vielerlei andere und auch Menschen, welche teils mitten im Lande wohnen,
teils so um die Luft herum, wie wir um das Meer herum, teils auch auf luftumflossenen
Inseln um das feste Land her. Und mit einem Worte, was uns Wasser und Meer ist
für unsere Bedürfnisse, das sei jenen dort die Luft, und was uns die Luft, das
sei jenen der Äther. Und die Witterung habe eine solche Mischung bei ihnen,
daß sie ohne Krankheit wären und weit längere Zeit lebten als die hiesigen,
und ihr Gesicht, Gehör, Geruch und dergleichen von dem unsrigen in demselben
Maß abstände, wie die Luft vom Wasser absteht und der Äther von der Luft hinsichtlich
der Reinheit. Auch haben sie weiter Tempel und Heiligtümer für die Götter, in
denen aber die Götter wahrhaft wohnen, und Stimmen, Weissagungen, Erscheinungen
der Götter und mehr dergleichen Verkehr mit ihnen; und Sonne, Mond und Sterne
sähen sie, wie sie wirklich sind, und dem sei auch ihre übrige Glückseligkeit
gemäß.
So demnach sei die ganze Erde geartet, und was sie umgibt; rund umher auf
ihr aber gebe es nach Maßgabe ihrer Höhlung viele Orte, einige tiefer und weiter
geöffnet als der, in welchem wir wohnen, andere wiederum tiefer, aber mit einer
engeren Öffnung, als die unser Ort hat; und welche sind wohl auch flacher und
dabei doch breiter als der hiesige. Alle diese nun wären unter der Erde vielfältig
gegen einander durchgebohrt, enger und weiter, so daß sie Durchgänge haben unter
sich, durch welche denn vieles Wasser aus einem in den andern fließt, wie in
Becher, und daß es unversiegliche Ströme von unübersehbarer Größe unter der
Erde gebe von warmen Wassern und kalten und vieles Feuer und große Ströme von
Feuer, viele auch von feuchtem Schlamm, teils reinerem, teils schmutzigerem,
wie in Sizilien die vor dem Feuerstrome sich ergießenden Ströme von Schlamm
und der Feuerstrom selbst, von denen denn alle Örter erfüllt werden, je nachdem
jedesmal jeder seinen Umlauf nimmt. Und dieses alles bewege hinauf und hinunter
gleichsam eine in der Erde befindliche Schaukel; diese Schaukel aber bestehe
durch folgende Einrichtung ungefähr: Einer nämlich von diesen Erdspalten ist
auch sonst der größte und quer durch die ganze Erde gebohrt. Dieser ist nun,
wie Homeros davon singt, Ferne, wo tief sich öffnet der Abgrund unter der Erde,
derselbe, den anderwärts er und auch sonst viele andere Dichter den Tartaros
genannt haben. In diesen Spalt nun strömen alle diese Flüsse zusammen und strömen
auch wieder von ihm aus; und alle werden so wie der Boden, durch welchen sie
strömen. Die Ursache aber, warum alle Ströme von hier ausfließen und auch wieder
hinein, ist, daß diese Flüssigkeit keinen Boden hat und keinen Grund. Daher
schwebt sie und wogt immer auf und ab, und die Luft und der Hauch um sie her
tut dasselbe. Denn dieser begleitet sie, sowohl wenn sie in die jenseitigen
Gegenden der Erde strömt, als wenn sie in die diesseitigen strömt. Und so wie
der Hauch der Atmenden in beständiger Bewegung immer einströmt und ausströmt,
so bildet auch dort der mit der Flüssigkeit wogende Hauch heftige und gewaltige
Winde sowohl im Hineingehen als im Herausgehen. Wenn nun strömend das Wasser
nach der Gegend hin ausweicht, welche »unten« genannt wird, so fließt es in
das Gebiet der dortigen Ströme und füllt es an wie beim Pumpen. Wenn es aber
von dort wiederum sich wegzieht und hierher strömt, so erfüllt es dann die hiesigen.
Diese, wenn sie erfüllt sind, strömen durch die Kanäle und durch die Erde; und
wenn sie jeder in die Gegenden kommen, wohin sie jedesmal geleitet werden, so
bilden sie Meere und Seen und Flüsse und Quellen. Von da tauchen sie nun wieder
unter die Erde, und teils längere und mehrere Gegenden durchziehend, teils wenigere
und kürzere, ergießen sie sich alle wieder in den Tartaros, einige viel weiter
unten, als wo sie ausgepumpt wurden, andere nicht so viel; aber unterhalb ihres
Ausflusses fließen sie alle ein; und einige strömen wieder aus, gerade gegenüber
der Stelle, wo sie eingeflossen sind, andere auf der nämlichen Seite. Ja, es
gibt auch welche, die im Kreise herumziehen, ein oder mehrere Male sich um die
Erde winden wie Schlangen und dann möglichst tief gesenkt sich wieder hinein
ergießen. Möglich ist aber von beiden Seiten nur, sich bis zur Mitte herabzusenken,
weiter nicht. Denn für beiderlei Ströme geht die Richtung nach jeder von beiden
Seiten aufwärts.
So gibt es nun gar viele andere große und verschiedene Ströme; unter diesen
vielen aber gibt es vorzüglich vier, von denen der größte und der am äußersten
rundherum fließende der sogenannte Okeanos ist; diesem gegenüber und in entgegengesetzter
Richtung fließend ist der Acheron, welcher durch viele andere wüste Gegenden
fließt, vorzüglich aber auch unter der Erde fortfließend in den Acherusischen
See kommt, wohin auch der meisten Verstorbenen Seelen gelangen, und nachdem
sie gewisse bestimmte Zeiten dort geblieben, einige länger, andere kürzer, dann
wieder ausgesendet werden zu den Erzeugungen der Lebendigen.
Der dritte Fluß
strömt aus zwischen diesen beiden und ergießt sich unweit seiner Quelle in eine
weite, mit einem gewaltigen Feuer brennende Gegend, wo er einen See bildet,
größer als unser Meer und siedend von Wasser und Schlamm. Von hier aus bewegt
er sich dann im Kreise herum trübe und schlammig, und indem er sich um die Erde
herumwälzt, kommt er nächst andern Orten auch an die Grenzen des Acherusischen
Sees, jedoch ohne daß ihre Gewässer sich vermischten. Und nachdem er sich oftmals
unter der Erde umhergewälzt, ergießt er sich zu allerunterst in den Tartaros.
Dies ist der, den man Pyriphlegethon nennt, von welchem auch die feuerspeienden
Berge, wo sich deren auf der Erde finden, kleine Teilchen herauf blasen.
Diesem
wiederum gegenüber strömt der vierte aus, zuerst in eine furchtbare und wilde
Gegend, wie man sagt, und die von Farbe ganz und gar dunkelblau ist, welche
sie die Stygische nennen, und den See, welchen der Fluß bildet, den Styx. Nachdem
sich dieser nun hier hineinbegeben und gewaltige Kräfte aufgenommen in sein
Wasser, geht er unter die Erde, wälzt sich herum, kommt dem Pyriphlegethon gegenüber
wieder hervor und trifft auf den Acherusischen See an der gegenüberliegenden
Seite. Und auch dieser vermischt sein Wasser mit keinem andern, sondern geht
ebenfalls im Kreise herum und ergießt sich wieder in den Tartaros gegenüber
dem Pyriphlegethon. Sein Name aber heißt, wie die Dichter sagen, Kokytos.
Da nun dieses so ist, so werden, sobald die Verstorbenen an dem Orte angelangt
sind, wohin der Dämon jeden bringt, zuerst diejenigen ausgesondert, welche schön
und heilig gelebt haben, und welche nicht.
Die nun dafür erkannt werden, einen
mittelmäßigen Wandel geführt zu haben, begeben sich auf den Acheron, besteigen
die Fahrzeuge, die es da für sie gibt, und gelangen auf diesen zu dem See.
Hier
wohnen sie und reinigen sich, büßen ihre Vergehungen ab, wenn einer sich irgendwie
vergangen hat, und werden losgesprochen, wie sie auch ebenso für ihre guten
Taten den Lohn erlangen, jeglicher nach Verdienst.
Deren Zustand aber für unheilbar
erkannt wird wegen der Größe ihrer Vergehungen, weil sie häufigen und bedeutenden
Raub an den Heiligtümern begangen oder viele ungerechte und gesetzwidrige Mordtaten
vollbracht oder anderes, was dem verwandt ist, - diese wirft ihr gebührendes
Geschick in den Tartaros, aus dem sie nie wieder heraussteigen.
Die hingegen
heilbare zwar, aber doch große Vergehungen begangen zu haben erfunden werden,
wie die gegen Vater oder Mutter im Zorn etwas Gewalttätiges ausgeübt, oder die
auf diese oder andere Weise Mörder geworden sind, - diese müssen zwar auch in
den Tartaros stürzen; aber wenn sie hineingestürzt und ein Jahr darin gewesen
sind, wirft die Welle sie wieder aus, die Mörder auf der Seite des Kokytos,
die aber gegen Vater und Mutter sich versündigt, auf der Seite des Pyriphlegethon.
Wenn sie nun auf diesen fortgetrieben an den Acherusischen See kommen, so schreien
sie da und rufen die, welche von ihnen getötet worden sind oder frevelhaft behandelt.
Haben sie sie nun herbeigerufen, so Heben sie und bitten, sie möchten sie in
den See aussteigen lassen und sie dort aufnehmen. Wenn sie sie nun überreden,
so steigen sie aus, und ihre Übel sind am Ende; wo nicht, so werden sie wieder
in den Tartaros getrieben, und aus diesem wieder in die Flüsse, und so hört
es nicht auf, ihnen zu ergehen, bis sie diejenigen überreden, welchen sie Unrecht
getan haben; denn diese Strafe ist ihnen von den Richtern angeordnet.
Die aber
ausgezeichnete Fortschritte in heiligem Leben gemacht zu haben erscheinen, dies
endlich sind diejenigen, welche, von allen diesen Orten im Innern der Erde befreit
und losgesprochen von allem Gefängnis, hinauf in die reine Behausung gelangen
und auf der Erde wohnhaft werden.
Welche nun unter diesen durch Weisheitsliebe
sich schon gehörig gereinigt haben, diese leben für alle künftigen Zeiten gänzlich
ohne Leiber und kommen in noch schönere Wohnungen als diese, welche weder leicht
wären zu beschreiben, noch würde die Zeit für diesmal zureichen. Aber schon
um deswillen, was wir jetzt auseinandergesetzt haben, o Simmias, muß man ja
wohl alles tun, um der Tugend und Vernunft im Leben teilhaftig zu werden. Denn
schön ist der Preis und die Hoffnung groß.
Daß sich nun dies alles gerade so verhalte, wie ich es auseinandergesetzt,
das ziemt wohl einem vernünftigen Mann nicht zu behaupten: daß es jedoch entweder
diese oder eine ähnliche Bewandtnis haben muß mit unsern Seelen und ihren Wohnungen,
wenn doch die Seele offenbar etwas Unsterbliches ist, dies, dünkt mich, zieme
sich gar wohl und lohne auch, es darauf zu wagen, daß man glaube, es verhalte
sich so. Denn es ist ein schönes Wagnis, und man muß mit solcherlei gleichsam
sich selbst besprechen. Darum spinne ich auch schon so lange an der Erzählung.
Ihr nun", setzte er hinzu, "Simmias und Kebes und ihr übrigen, werdet ein
andermal jeder zu seiner Zeit abgehen; mich aber ruft jetzt schon, würde ein
tragischer Dichter sagen, das Geschick, und es ist wohl beinahe Zeit, mich nach
dem Bade umzusehen.
Denn es dünkt mich doch besser zu baden, ehe ich den Trank
nehme, und nicht hernach den Weibern Mühe zu machen mit dem Waschen des
Leichnams."
Als er dies gesagt, sprach Kriton:
"Wohl, Sokrates! Was trägst du aber diesen
auf oder mir deiner Kinder wegen, oder was wir sonst irgend dir noch recht zu
Dank machen könnten, wenn wir es täten?"
"Was ich immer sage", sprach er,
"Kriton, das heißt eigentlich nichts Besonderes. Nur das nämlich,daß ihr selbst
recht auf euch achtet und daß ihr das alles mir und den Meinigen und euch selbst
zu Dank machen werdet, was immer ihr tut, auch wenn ihr es jetzt nicht
versprecht. Wenn ihr aber euch selbst vernachlässigt und nicht sozusagen in den
Spuren dessen, was wir jetzt und früher schon besprochen haben, im Leben wandeln
wollt, dann werdet ihr ja doch nichts weiter ausrichten, wenn ihr es auch jetzt
noch so hoch und teuer versprecht."
"Wir werden gewiß bestrebt sein, es so zu
machen", sagte Kriton. "Aber auf welche Weise sollen wir dich bestatten?"
"Wie
ihr wollt", sprach er, "vorausgesetzt ihr werdet mich wirklich haben und ich
entwische euch nicht."
Dabei lächelte er ganz ruhig und sagte, indem er uns
ansah:
"Diesen Kriton, ihr Männer, überzeuge ich nicht, daß ich der Sokrates
bin, dieser, der jetzt mit euch redet und euch das Gesagte einzeln darlegt,
sondern er glaubt, ich sei jener, den er nun bald tot sehen wird, und fragt mich
deshalb, wie er mich bestatten soll. Daß ich aber schon so lange eine große Rede
darüber gehalten habe, daß, wenn ich den Trank genommen habe, ich dann nicht
länger bei euch bleiben, sondern fortgehen werde zu irgendwelchen Herrlichkeiten
der Seligen, das, meint er wohl, sage ich alles nur so, um euch zu beruhigen und
mich mit. Darum verbürgt euch nun für mich bei Kriton, und zwar gerade im
entgegengesetzten Sinn, als er es für mich bei den Richtern getan hat. Denn er
hat sich dafür verbürgt, daß ich ganz gewiß bleiben werde, ihr aber verbürgt
euch dafür, daß ich ganz gewiß nicht bleiben werde, wenn ich tot bin, sondern
weggehen und fort sein, damit Kriton es leichter trage und, wenn er meinen Leib
verbrennen oder begraben sieht, sich nicht gräme meinetwegen, als sei mir etwas
Schlimmes widerfahren; und damit er nicht bei der Bestattung sage, er bahre den
Sokrates auf oder trage ihn heraus oder begrabe ihn.
Denn wisse nur", sagte er,
"bester Kriton, sich unrichtig auszudrücken, ist nicht nur für den betreffenden
Fall selbst fehlerhaft, sondern es bewirkt auch in der Seele einen schlechten
Eindruck. Sondern du mußt getrost sein und sagen, daß du meinen Leib bestattest,
und diesen bestatte nur, wie es dir eben recht ist, und wie du es am meisten für
schicklich hältst."
Mit diesen Worten stand er auf und ging in ein Gemach, um zu baden, und
Kriton begleitete ihn, uns aber hieß er dableiben. Wir blieben also und redeten
untereinander über das Gesagte und überdachten es noch einmal; dann aber auch
klagten wir wieder über das Unglück, welches uns getroffen hätte, ganz darüber
einig, daß wir nun gleichsam des Vaters beraubt als Waisen unser ferneres Leben
hinbringen würden. Nachdem er nun gebadet und man seine Kinder zu ihm gebracht
hatte - er hatte nämlich zwei kleine Söhne und einen größeren - und die mit ihm
verwandten Frauen gekommen waren, sprach er mit ihnen in Kritons Beisein, und
nachdem er ihnen aufgetragen, was er wollte, hieß er die Weiber und Kinder
wieder gehen, er aber kam zu uns. Und es war schon nahe am Untergange der Sonne,
denn er war lange drinnen geblieben.
Als er nun gekommen war, setzte er sich nieder nach dem Bade und hatte noch
nicht viel seitdem gesprochen, da kam der Diener der Elfmänner, trat zu ihm und
sagte:
"Sokrates, über dich werde ich mich nicht zu beklagen haben wie über
andere, daß sie mir böse werden und mir fluchen, wenn ich ihnen ansage, sie
müßten das Gift trinken auf Befehl der Behörde. Dich aber habe ich auch sonst
schon in dieser Zeit erkannt als den Edelsten, Sanftmütigsten und Trefflichsten
von allen, die sich jemals hier befunden haben, und auch jetzt weiß ich sicher,
daß du nicht mir böse sein wirst - denn du weißt wohl, wer schuld daran ist -,
sondern jenen. Nun also, denn du weißt wohl, was ich dir zu sagen gekommen bin,
lebe wohl und suche so leicht als möglich zu tragen, was nicht zu ändern ist."
Da weinte er, wendete sich um und ging.
Sokrates aber sah ihm nach und sprach: "Auch du lebe wohl, und wir wollen es
so tun." Und zu uns sagte er:
"Wie fein der Mann ist. So ist er die ganze Zeit
mit mir umgegangen, hat sich bisweilen mit mir unterhalten und war der beste
Mensch; und nun wie aufrichtig beweint er mich! Aber wohlan denn, Kriton, laßt
uns ihm gehorchen, und bringe einer den Trank, wenn er schon ausgepreßt ist, wo
nicht, so soll ihn der Mann bereiten."
Da sagte Kriton: "Aber mich dünkt,
Sokrates, die Sonne scheint noch an die Berge und ist noch nicht untergegangen.
Und ich weiß, daß auch andere erst ganz spät getrunken haben, nachdem es ihnen
angesagt worden ist, und haben noch gut gegessen und getrunken; ja einige haben
gar noch Schöne zu sich kommen lassen, nach denen sie Verlangen hatten. Also
übereile dich nicht; denn es hat noch Zeit."
Da sagte Sokrates: "Natürlich machen
es jene so, Kriton, von denen du sprichst; denn sie meinen damit etwas zu
gewinnen. Und ich werde es natürlich nicht so machen; denn ich meine, nichts zu
gewinnen, wenn ich um ein wenig später trinke, als nur, daß ich mir selbst
lächerlich vorkäme, wenn ich am Leben klebte und sparen wollte, wo nichts mehr
ist. Also geh", sprach er, "folge mir und tue nicht anders." -
Darauf winkte denn Kriton dem Knaben, der ihm zunächst stand, und der Knabe
ging hinaus, und nachdem er eine Weile weggeblieben, kam er und führte den Mann
herein, der ihm den Trank reichen sollte, welchen er schon zubereitet im Becher
brachte. Als nun Sokrates den Mann sah sprach er :
"Mein Bester, da du dich
darauf verstehst, wie muß man es machen?"
"Nichts weiter" sagte der, "als wenn du
getrunken hast, herumgehen bis dir die Schenkel schwer werden und dann dich
niederlegen, so wird es schon wirken."
Damit reichte er dem Sokrates den Becher,
und dieser nahm ihn und ganz getrost, Echekrates, ohne im
mindesten zu zittern oder Farbe oder Gesichtszüge zu verandern, sondern so, wie
er es immer tat, sah er den Mann ganz gerade an und fragte ihn:
"Was meinst du,
kann man von dem Trank auch eine Spende opfern? Darf man davon eine darbringen
oder nicht?"
"Wir bereiten nur soviel zu, Sokrates", antwortete der, "als wir
glauben, daß hinreichend sein wird."
"Ich verstehe", sagte Sokrates. "Beten aber
darf man doch zu den Göttern - und muß es -, daß die Wanderung von hier dorthin
glücklich sein möge. Und darum bete ich jetzt, und so möge es geschehen." Und
wie er dies gesagt, setzte er an, und ganz frisch und unverdrossen trank er
aus.
Jacques-Louis David
Und von uns waren die meisten bis dahin ziemlich imstande gewesen sich zu
halten, daß sie nicht weinten; als wir aber sahen, daß er trank und getrunken
hatte, nicht mehr. Sondern auch mir selbst flossen Tränen mit Gewalt, und nicht
tropfenweise, so daß ich mich verhüllen mußte und mich ausweinen, nicht über ihn
jedoch, sondern über mein eigenes Schicksal, welch edlen Freund ich nun
verlieren sollte. Kriton war noch eher als ich beiseite getreten, weil er nicht
vermochte, dieTränen zurückzuhalten. Apollodoros aber, der schon vorher nicht
aufgehört hatte zu weinen, schluchzte jetzt laut auf unter seinen Tränen und
brach mit seinem Gram uns Anwesenden allen das Herz außer Sokrates selbst. Der
aber sagte:
"Was macht ihr doch, ihr wunderlichen Leute? Ich habe besonders
deswegen die Weiber weggeschickt, daß sie nicht in diesen Fehler verfallen
möchten; denn ich habe immer gehört, man müsse stille sein, wenn jemand stirbt.
Also haltet euch ruhig und standhaft."
Als wir das hörten, schämten wir uns und
hielten inne mit Weinen. Er aber ging umher, und als er merkte, daß ihm die
Schenkel schwer wurden, legte er sich gerade hin auf den Rücken; denn so hatte
es ihn der Mann geheißen. Darauf berührte ihn eben dieser, der ihm das Gift
gegeben hatte, von Zeit zu Zeit und untersuchte seine Füße und Schenkel. Dann
drückte er ihm den Fuß stark und fragte, ob er es fühle; er sagte nein. Und
darauf die Knie, und so ging er immer höher hinauf und zeigte uns, wie er
erkaltete und erstarrte. Darauf berührte er ihn noch einmal und sagte, wenn ihm
das bis ans Herz käme, dann werde es ausgehen. Als ihm nun schon der Unterleib
fast ganz kalt war, da enthüllte er sich, denn er lag verhüllt, und sagte, und
das waren seine letzten Worte: "Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn
schuldig; entrichtet ihm den und versäumt es ja nicht."
"Das soll geschehen",
sagte Kriton, sieh aber zu, ob du noch sonst etwas zu sagen hast." Als Kriton
dies fragte, antwortete er aber nichts mehr, sondern bald darauf zuckte er, und
der Mann deckte ihn auf; da waren seine Augen gebrochen. Als Kriton das sah,
schloß er ihm Mund und Augen.
Dies Echekrates, war das Ende
unseres Freundes, des Mannes, der nach unserem Urteil von allen seinen
Zeitgenossen, die wir erprobt haben, der Edelste, Verständigste und Gerechteste
war.
volker doormann
- 2006.03.25
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