"Stille lässt sich
nicht ausbilden oder vorsätzlich herbeiführen, man kann sie
weder erforschen noch über sie nachdenken oder meditieren. Absichtliches
Pflegen von Stille gleicht dem Genuss eines lang ersehnten Vergnügens.
Der Wunsch, unseren Sinn ruhig zu machen, ist nichts anderes
als die Jagd nach Sensation, und solche Ruhe ist eine Form von
Widerstand, eine Art Isolierung, die zur Zerrüttung führt. Stille,
die man erkauft, ist wie etwas, das man zu Markte trägt - voll
von geschäftigem Lärm. Ruhe kommt erst bei der Abwesenheit jeglichen
Verlangens. Verlangen ist flüchtig und schlau und geht tief.
Unser Gedächtnis schneidet immer das Schwingen der Stille ab,
und wenn sich der Sinn in Erlebnissen verfängt, kann er nicht
mehr ruhig sein. Zeit oder die Bewegung des Gestern ins Heute
und Morgen ist nie Stille. Hört diese Bewegung auf, dann herrscht
Stille, und erst dann kann das Unaussprechliche ins Dasein treten.
«Ich bin gekommen, um
mit Ihnen über Karma zu sprechen. Natürlich habe ich
eine bestimmte Ansicht darüber, aber ich würde auch gern die
Ihre hören.»
Eine Meinung ist nicht Wahrheit, wir
müssen unsere Meinungen beiseite setzen, wenn wir Wahrheit finden
wollen. Es gibt immer unzählige Ansichten, doch Wahrheit gehört
in keine einzige Gruppe. Will man Wahrheit erkennen, so müssen
alle Ideen, Schlussfolgerungen und Meinungen wie welke Blätter
vom Baume fallen. Wahrheit lässt sich weder in Büchern, noch
in Wissen oder Erfahrung finden, und wenn Sie auf der Suche
nach Meinungen sind, werden Sie sie hier nicht antreffen.
«Können wir nicht über Karma
sprechen und seine Bedeutung zu ergründen suchen ?»
Natürlich, das ist etwas ganz
anderes. Aber Ansichten und Schlüsse müssen aufhören, wenn man
etwas verstehen will.
«Warum betonen Sie das so sehr?»
Kann man überhaupt etwas verstehen, wenn man schon im
voraus seine Schlussfolgerungen gezogen hat oder die anderer
Leute wiederholt? Müssen wir nicht frisch und ohne jedes Vorurteil
an eine Frage herangehen, deren Wahrheit wir erforschen wollen?
Was ist wichtiger: frei von Vorurteilen und Schlüssen zu sein,
oder Betrachtungen über etwas Abstraktes anzustellen? Hat es
nicht viel mehr Bedeutung, Wahrheit zu finden, als sich darüber
zu streiten, was die Wahrheit sei? Eine Ansicht über Wahrheit
kann doch niemals die Wahrheit selber sein. Halten Sie es nicht
für wichtig, die Wahrheit über Karma zu erfahren? Das
Falsche als falsch zu sehen, ist der Beginn von Verständnis,
nicht wahr? Wie sollen wir aber Wahres oder Falsches erkennen,
wenn sich unser Denken hinter Worten, Erklärungen und Traditionen
verschanzt? Wie kann unser Verstand weit gehen, wenn er so fest
an einen Glauben gebunden ist? Will er weit reichen, so muss
er frei sein. Freiheit wird nicht erst nach langer Mühe gewonnen,
sie muss gleich zu Anfang der Wanderung da sein.
«Ich
möchte gern wissen, was Sie unter Karma verstehen.»
Lassen Sie uns zusammen auf die Entdeckungsreise gehen.
Es bedeutet nicht viel, die Worte eines andern zu wiederholen;
das ist genauso, als ob man eine Grammophonplatte abspielt.
Wiederholung oder Nachahmung führt nicht zur Freiheit. Was verstehen
Sie unter Karma? «Es ist ein Sanskrit Wort
und bedeutet: tun, sein, handeln und so weiter. Karma
ist Handlung, und Handlung ist das Ergebnis der Vergangenheit.
Handeln vollzieht sich niemals außerhalb der Bedingtheit unseres
Hintergrundes. Aus einer Kette von Erfahrungen, aus Bedingtheit
und Wissen baut sich ein Hintergrund der Tradition auf, und
zwar nicht nur im gegenwärtigen Leben des Einzelnen oder der
Gruppe, sondern im Lauf vieler Inkarnationen. Karma ist
die beständige Wirkung und Wechselwirkung zwischen dem Hintergrunde
- dem <Ich> - und der Gesellschaft, dem Leben. Karma
bindet unser Denken, unser <Ich>. Was ich in einem vergangenen
Leben oder auch nur gestern getan habe, fesselt und formt mich,
bringt mir Freude oder Schmerz in der Gegenwart. Ebenso wie
das Karma des Einzelnen gibt es Gruppen- oder Kollektivkarma.
Sowohl die Gruppe wie der Einzelne sind in der Kette von Ursache
und Wirkung gefangen, und je nach dem Verhalten in der Vergangenheit
kann man Freude oder Leid, Belohnung oder Strafe erwarten.»
Sie sagen, Handeln sei das Ergebnis der Vergangenheit.
Aber solches Handeln ist überhaupt kein Handeln, sondern bloße
Rückwirkung, nicht wahr? Mein Hintergrund oder meine Bedingtheit
reagiert auf Reize; diese Reaktion kommt als Antwort aus
meinem Gedächtnis, aber das ist nicht Handlung sondern Karma.
Im Augenblick beschäftigen wir uns nicht damit, was Handeln
ist. Karma ist eine Rückwirkung, die aus bestimmten Ursachen
entsteht und gewisse Ergebnisse zeitigt, es ist die Kette von
Ursache und Wirkung. Der Zeitablauf ist seinem Wesen nach Karma,
nicht wahr? Solange noch Vergangenheit besteht, muss es auch
Gegenwart und Zukunft geben. Heute und Morgen sind die Früchte
des Gestern, und Gestern in Verbindung mit dem Heute schafft
das Morgen. Karma wird im allgemeinen als ein Ausgleichsvorgang
angesehen.
«Wie Sie sagen, ist Karma ein Zeitablauf
und unser Denken ein Ergebnis von Zeit. Nur sehr wenige Glückliche
können dem Griff der Zeit entfliehen, wir andern sind der Zeit
verhaftet. Unsere Handlungen in der Vergangenheit - böse oder
gut - entscheiden über unsere Gegenwart.»
Ist unsere
Vergangenheit, unsere Tradition etwas Statisches, oder ist sie
beständigem Wechsel unterworfen?. Sie sind heute nicht mehr
derselbe wie gestern, denn es gehen unaufhörlich körperliche
wie seelische Veränderungen in Ihnen vor, nicht wahr? «Natürlich.»
Unser Denken ist also keineswegs starr. Unsere Gedanken
sind flüchtig und wechseln beständig, sie sind Reaktionen aus
unserem Hintergrunde. Da ich innerhalb einer bestimmten Gesellschaftsklasse
oder Kultur erzogen worden bin, reagiere ich auf alle Reize
und Herausforderungen meiner Bedingtheit entsprechend. Bei den
meisten Menschen ist die Bedingtheit so tief verwurzelt, dass
ihre Reaktionen fast immer schematisch verlaufen. Unser Denken
ist demnach nichts anderes als Rückwirkungen aus unserem Hintergrunde.
Wir sind unser Hintergrund, denn die Bedingtheit ist
von uns nicht trennbar oder verschieden. Mit einer Veränderung
des Hintergrundes würde sich auch unser Denken ändern.
«Aber
der Denker ist doch sicherlich etwas anderes als sein Hintergrund,
nicht wahr ?»
Wirklich? Ist der Denker nicht
das Ergebnis seines Denkens? Setzt er sich nicht aus seinen
eigenen Gedanken zusammen? Gibt es ein Wesen, einen Denker der
losgelöst ist oder abseits von seinem Denken steht? Hat das
Denken nicht erst den Denker erschaffen und ihm zwischen all
den flüchtigen Gedanken Fortdauer verliehen? Der Denker ist
zur Zuflucht seines Denkens geworden und stellt sich selber
auf verschiedene Ebenen der Fortdauer.
«Ich sehe
deutlich, dass es so ist, aber es erschüttert mich tief, mir
die Listen zu vergegenwärtigen, mit denen unser Denken sich
selbst betrügt.»
Denken ist ein Reagieren aus unserem
Hintergrund oder Gedächtnis, und Gedächtnis ist Wissen oder
Ergebnis von Erfahrung. Unser Gedächtnis wird infolge neuer
Erfahrungen und Rückwirkungen immer zäher, umfangreicher, schärfer
und tüchtiger. Eine bestimmte Form von Bedingtheit lässt sich
zwar durch eine andere ersetzen, doch bleibt es immer Bedingtheit.
Die Rückwirkung aus solcher Bedingtheit ist Karma, nicht wahr
? Die Antworten aus unserem Gedächtnis nennen wir Handlungen,
während sie doch nichts als Rückwirkungen sind. Derartiges Handeln
erzeugt neue Rückwirkungen, und so entsteht eine Kette sogenannter
Ursache und Wirkung. Ist aber die Ursache nicht auch Wirkung?
Keine von beiden ist statisch. Das Heute ist ein Ergebnis von
gestern und zugleich die Ursache für morgen: was Ursache war,
wird zur Wirkung und umgekehrt - sie fließen ineinander. Es
gibt keinen Augenblick, da eine Ursache nicht gleichzeitig Wirkung
ist. Nur das Spezielle ist in seiner Ursache und damit auch
in seiner Wirkung gebunden: die Eichel kann nichts anderes als
ein Eichbaum werden. Im Besonderen liegt der Keim des Todes.
Der Mensch ist kein spezialisiertes Wesen in diesem Sinne, er
kann werden, was er will. Er kann seine Bedingtheit durchbrechen
- ja, er muss es tun, wenn er die Wirklichkeit finden will. Man
muss aufhören, ein Brahmane zu sein, wenn man Gott erkennen will.
Karma ist Zeitablauf: die Vergangenheit bewegt sich durch
die Gegenwart in die Zukunft, und in solcher Kettenbewegung
verläuft unser Denken. Alles Denken ist ein Ergebnis von Zeit,
und nur wenn sein Ablauf zum Stillstand kommt, kann das Unermessliche,
Zeitlose in Erscheinung treten. Stille des Denkens lässt sich
weder hervorrufen noch durch Übung oder Schulung herbeiführen.
Wird
unser Sinn still gemacht, dann ist das, was darin auftaucht,
nur seine eigene Projektion oder eine Reaktion aus dem Gedächtnis.
Doch durch Verständnis für seine Bedingtheit und durch vorurteilsloses
Beobachten seiner eigenen Reaktionen als Denken und Fühlen kommt
unser Sinn zur Ruhe. Das Durchbrechen der Fessel von Karma ist
keine Frage der Zeit, denn Zeitloses kann niemals aus Zeit geboren
werden. Karma muss als Gesamtvorgang verstanden werden und nicht
nur als etwas aus der Vergangenheit. Vergangenheit bedeutet
Zeit, die wiederum auch Gegenwart und Zukunft ist. Zeit ist
Gedächtnis, Wort und Gedanke. Erst wenn Wort, Name, Gedankenverbindung
und Erfahrung nicht mehr bestehen, ist unser Denken zur Ruhe
gekommen, und zwar nicht nur in den oberflächlichen Schichten,
sondern vollkommen und einheitlich."
Auszug aus Jiddu
Krishnamurti: 'Konflikt und Klarheit' mit freundlicher Genehmigung von Harold
S. Blume, Humata Verlag, Bern
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