Jiddu Krishnamurti spricht über Karma


 "Stille lässt sich nicht ausbilden oder vorsätzlich herbeiführen, man kann sie weder erforschen noch über sie nachdenken oder meditieren. Absichtliches Pflegen von Stille gleicht dem Genuss eines lang ersehnten Vergnügens. Der Wunsch, unseren Sinn ruhig zu machen, ist nichts anderes als die Jagd nach Sensation, und solche Ruhe ist eine Form von Widerstand, eine Art Isolierung, die zur Zerrüttung führt. Stille, die man erkauft, ist wie etwas, das man zu Markte trägt - voll von geschäftigem Lärm. Ruhe kommt erst bei der Abwesenheit jeglichen Verlangens. Verlangen ist flüchtig und schlau und geht tief. Unser Gedächtnis schneidet immer das Schwingen der Stille ab, und wenn sich der Sinn in Erlebnissen verfängt, kann er nicht mehr ruhig sein. Zeit oder die Bewegung des Gestern ins Heute und Morgen ist nie Stille. Hört diese Bewegung auf, dann herrscht Stille, und erst dann kann das Unaussprechliche ins Dasein treten.

 «Ich bin gekommen, um mit Ihnen über Karma zu sprechen. Natürlich habe ich eine bestimmte Ansicht darüber, aber ich würde auch gern die Ihre hören.»

Eine Meinung ist nicht Wahrheit, wir müssen unsere Meinungen beiseite setzen, wenn wir Wahrheit finden wollen. Es gibt immer unzählige Ansichten, doch Wahrheit gehört in keine einzige Gruppe. Will man Wahrheit erkennen, so müssen alle Ideen, Schlussfolgerungen und Meinungen wie welke Blätter vom Baume fallen. Wahrheit lässt sich weder in Büchern, noch in Wissen oder Erfahrung finden, und wenn Sie auf der Suche nach Meinungen sind, werden Sie sie hier nicht antreffen.

«Können wir nicht über Karma sprechen und seine Bedeutung zu ergründen suchen ?»

Natürlich, das ist etwas ganz anderes. Aber Ansichten und Schlüsse müssen aufhören, wenn man etwas verstehen will.

«Warum betonen Sie das so sehr?»

Kann man überhaupt etwas verstehen, wenn man schon im voraus seine Schlussfolgerungen gezogen hat oder die anderer Leute wiederholt? Müssen wir nicht frisch und ohne jedes Vorurteil an eine Frage herangehen, deren Wahrheit wir erforschen wollen? Was ist wichtiger: frei von Vorurteilen und Schlüssen zu sein, oder Betrachtungen über etwas Abstraktes anzustellen? Hat es nicht viel mehr Bedeutung, Wahrheit zu finden, als sich darüber zu streiten, was die Wahrheit sei? Eine Ansicht über Wahrheit kann doch niemals die Wahrheit selber sein. Halten Sie es nicht für wichtig, die Wahrheit über Karma zu erfahren? Das Falsche als falsch zu sehen, ist der Beginn von Verständnis, nicht wahr? Wie sollen wir aber Wahres oder Falsches erkennen, wenn sich unser Denken hinter Worten, Erklärungen und Traditionen verschanzt? Wie kann unser Verstand weit gehen, wenn er so fest an einen Glauben gebunden ist? Will er weit reichen, so muss er frei sein. Freiheit wird nicht erst nach langer Mühe gewonnen, sie muss gleich zu Anfang der Wanderung da sein.

«Ich möchte gern wissen, was Sie unter Karma verstehen.»



Lassen Sie uns zusammen auf die Entdeckungsreise gehen. Es bedeutet nicht viel, die Worte eines andern zu wiederholen; das ist genauso, als ob man eine Grammophonplatte abspielt. Wiederholung oder Nachahmung führt nicht zur Freiheit. Was verstehen Sie unter Karma?

«Es ist ein Sanskrit Wort und bedeutet: tun, sein, handeln und so weiter. Karma ist Handlung, und Handlung ist das Ergebnis der Vergangenheit. Handeln vollzieht sich niemals außerhalb der Bedingtheit unseres Hintergrundes. Aus einer Kette von Erfahrungen, aus Bedingtheit und Wissen baut sich ein Hintergrund der Tradition auf, und zwar nicht nur im gegenwärtigen Leben des Einzelnen oder der Gruppe, sondern im Lauf vieler Inkarnationen. Karma ist die beständige Wirkung und Wechselwirkung zwischen dem Hintergrunde - dem <Ich> - und der Gesellschaft, dem Leben. Karma bindet unser Denken, unser <Ich>. Was ich in einem vergangenen Leben oder auch nur gestern getan habe, fesselt und formt mich, bringt mir Freude oder Schmerz in der Gegenwart. Ebenso wie das Karma des Einzelnen gibt es Gruppen- oder Kollektivkarma. Sowohl die Gruppe wie der Einzelne sind in der Kette von Ursache und Wirkung gefangen, und je nach dem Verhalten in der Vergangenheit kann man Freude oder Leid, Belohnung oder Strafe erwarten.»

Sie sagen, Handeln sei das Ergebnis der Vergangenheit. Aber solches Handeln ist überhaupt kein Handeln, sondern bloße Rückwirkung, nicht wahr? Mein Hintergrund oder meine Bedingtheit reagiert auf Reize; diese Reaktion kommt als Antwort aus meinem Gedächtnis, aber das ist nicht Handlung sondern Karma. Im Augenblick beschäftigen wir uns nicht damit, was Handeln ist. Karma ist eine Rückwirkung, die aus bestimmten Ursachen entsteht und gewisse Ergebnisse zeitigt, es ist die Kette von Ursache und Wirkung. Der Zeitablauf ist seinem Wesen nach Karma, nicht wahr? Solange noch Vergangenheit besteht, muss es auch Gegenwart und Zukunft geben. Heute und Morgen sind die Früchte des Gestern, und Gestern in Verbindung mit dem Heute schafft das Morgen. Karma wird im allgemeinen als ein Ausgleichsvorgang angesehen.

«Wie Sie sagen, ist Karma ein Zeitablauf und unser Denken ein Ergebnis von Zeit. Nur sehr wenige Glückliche können dem Griff der Zeit entfliehen, wir andern sind der Zeit verhaftet. Unsere Handlungen in der Vergangenheit - böse oder gut - entscheiden über unsere Gegenwart.»

Ist unsere Vergangenheit, unsere Tradition etwas Statisches, oder ist sie beständigem Wechsel unterworfen?. Sie sind heute nicht mehr derselbe wie gestern, denn es gehen unaufhörlich körperliche wie seelische Veränderungen in Ihnen vor, nicht wahr?

«Natürlich

Unser Denken ist also keineswegs starr. Unsere Gedanken sind flüchtig und wechseln beständig, sie sind Reaktionen aus unserem Hintergrunde. Da ich innerhalb einer bestimmten Gesellschaftsklasse oder Kultur erzogen worden bin, reagiere ich auf alle Reize und Herausforderungen meiner Bedingtheit entsprechend. Bei den meisten Menschen ist die Bedingtheit so tief verwurzelt, dass ihre Reaktionen fast immer schematisch verlaufen. Unser Denken ist demnach nichts anderes als Rückwirkungen aus unserem Hintergrunde. Wir sind unser Hintergrund, denn die Bedingtheit ist von uns nicht trennbar oder verschieden. Mit einer Veränderung des Hintergrundes würde sich auch unser Denken ändern.

«Aber der Denker ist doch sicherlich etwas anderes als sein Hintergrund, nicht wahr ?»

Wirklich?  Ist der Denker nicht das Ergebnis seines Denkens? Setzt er sich nicht aus seinen eigenen Gedanken zusammen? Gibt es ein Wesen, einen Denker der losgelöst ist oder abseits von seinem Denken steht? Hat das Denken nicht erst den Denker erschaffen und ihm zwischen all den flüchtigen Gedanken Fortdauer verliehen? Der Denker ist zur Zuflucht seines Denkens geworden und stellt sich selber auf verschiedene Ebenen der Fortdauer.

«Ich sehe deutlich, dass es so ist, aber es erschüttert mich tief, mir die Listen zu vergegenwärtigen, mit denen unser Denken sich selbst betrügt

Denken ist ein Reagieren aus unserem Hintergrund oder Gedächtnis, und Gedächtnis ist Wissen oder Ergebnis von Erfahrung. Unser Gedächtnis wird infolge neuer Erfahrungen und Rückwirkungen immer zäher, umfangreicher, schärfer und tüchtiger. Eine bestimmte Form von Bedingtheit lässt sich zwar durch eine andere ersetzen, doch bleibt es immer Bedingtheit. Die Rückwirkung aus solcher Bedingtheit ist Karma, nicht wahr ? Die Antworten aus unserem Gedächtnis nennen wir Handlungen, während sie doch nichts als Rückwirkungen sind. Derartiges  Handeln erzeugt neue Rückwirkungen, und so entsteht eine Kette sogenannter Ursache und Wirkung. Ist aber die Ursache nicht auch Wirkung? Keine von beiden ist statisch. Das Heute ist ein Ergebnis von gestern und zugleich die Ursache für morgen: was Ursache war, wird zur Wirkung und umgekehrt - sie fließen ineinander. Es gibt keinen Augenblick, da eine Ursache nicht gleichzeitig Wirkung ist. Nur das Spezielle ist in seiner Ursache und damit auch in seiner Wirkung gebunden: die Eichel kann nichts anderes als ein Eichbaum werden. Im Besonderen liegt der Keim des Todes. Der Mensch ist kein spezialisiertes Wesen in diesem Sinne, er kann werden, was er will. Er kann seine Bedingtheit durchbrechen - ja, er muss es tun, wenn er die Wirklichkeit finden will. Man muss aufhören, ein Brahmane zu sein, wenn man Gott erkennen will. Karma ist Zeitablauf: die Vergangenheit bewegt sich durch die Gegenwart in die Zukunft, und in solcher Kettenbewegung verläuft unser Denken. Alles Denken ist ein Ergebnis von Zeit, und nur wenn sein Ablauf zum Stillstand kommt, kann das Unermessliche, Zeitlose in Erscheinung treten. Stille des Denkens lässt sich weder hervorrufen noch durch Übung oder Schulung herbeiführen. Wird unser Sinn still gemacht, dann ist das, was darin auftaucht, nur seine eigene Projektion oder eine Reaktion aus dem Gedächtnis. Doch durch Verständnis für seine Bedingtheit und durch vorurteilsloses Beobachten seiner eigenen Reaktionen als Denken und Fühlen kommt unser Sinn zur Ruhe. Das Durchbrechen der Fessel von Karma ist keine Frage der Zeit, denn Zeitloses kann niemals aus Zeit geboren werden. Karma muss als Gesamtvorgang verstanden werden und nicht nur als etwas aus der Vergangenheit. Vergangenheit bedeutet Zeit, die wiederum auch Gegenwart und Zukunft ist. Zeit ist Gedächtnis, Wort und Gedanke. Erst wenn Wort, Name, Gedankenverbindung und Erfahrung nicht mehr bestehen, ist unser Denken zur Ruhe gekommen, und zwar nicht nur in den oberflächlichen Schichten, sondern vollkommen und einheitlich."

Auszug aus Jiddu Krishnamurti: 'Konflikt und Klarheit'
mit freundlicher Genehmigung von Harold S. Blume, Humata Verlag, Bern


 

 

 

 

 

 

 

       

 

 

 


 


volker doormann    -  2003.12.05